Über Gegenstandstheorie

Von Alexius Meinong, In Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hg. von A. Meinong, J. A. Barth, 1904, S. 1–50.

[Transcribed by Kentaro Ozeki from a copy of Abhandlungen zur Erkenntnistheorie und Gegenstandstheorie by A. Meinong, J. A. Barth, 1913, pp. 481–530. This document is licensed under CC BY-SA 3.0. Other details are available on GitHub.]

Inhalt

§1. Die Frage.

[1] Daß man nicht erkennen kann, ohne etwas zu erkennen, allgemeiner: daß man nicht urteilen, ja auch nicht vorstellen kann, ohne über etwas zu urteilen, etwas vorzustellen, gehört zum Selbstverständlichsten, das bereits eine ganz elementare Betrachtung dieser Erlebnisse ergibt. Daß es auf dem Gebiete der Annahmen nicht anders bewandt ist, habe ich, obwohl sich die psychologische Forschung ihnen eben erst zugewandt hat, fast ohne besondere Untersuchung dartun können1-11-1„Über Annahmen“. Leipzig 1902. S. 256f.. Verwickelter steht es in dieser [2] Hinsicht ja jedenfalls bei den Gefühlen, wo wenigstens die Sprache mit dem Hinweise auf das, was man fühlt, etwa Freude, Schmerz, auch wohl Mitleid, Neid etc., ohne Zweifel einigermaßen irreführt, — und bei den Begehrungen, sofern man da trotz des hier wieder ganz eindeutigen Zeugnisses der Sprache ab und zu immer noch auf die Eventualität von Begehrungen, durch die nichts begehrt wird, zurückkommen zu sollen meint. Aber auch wer nicht meiner Meinung beipflichten sollte, daß Gefühle wie Begehrungen insofern unselbständige psychische Tatsachen sind, als sie Vorstellungen zur unerläßlichen „psychologischen Voraussetzung“ haben2-12-1Vgl. meine „Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie“. Graz 1894, S. 34f., auch Höfler, Psychologie S. 289., wird unbedenklich einräumen, daß man sich über etwas freut, für etwas interessiert, mindestens in den allermeisten Fällen nicht will oder wünscht, ohne etwas zu wollen oder zu wünschen, mit einem Worte: niemand verkennt, daß dem psychischen Geschehen dieses eigentümliche „auf etwas Gerichtetsein“ so außerordentlich häufig zukommt, daß es mindestens sehr nahe gelegt ist, darin ein charakteristisches Moment des Psychischen gegenüber Nicht-Psychischem zu vermuten.

Es ist indes nicht die Aufgabe der nachstehenden Ausführungen, darzulegen, weshalb ich diese Vermutung trotz mancher ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten für bestens begründet halte. Der Fälle, in denen sich die Bezugnahme, ja das ausdrückliche Gerichtetsein auf jenes „etwas“, oder, wie man ja ganz ungezwungen sagt, auf einen Gegenstand in durchaus unzweifelhafter Weise aufdrängt, sind so viele, daß auch im Hinblick auf sie allein die Frage nicht dauernd unbeantwortet bleiben sollte, wem denn eigentlich die wissenschaftliche Bearbeitung derartiger Gegenstände als solcher obliegt.

Die Aufteilung des der theoretischen Bearbeitung Würdigen und Bedürftigen in verschiedene Wissenschaftsgebiete und die sorgfältige Abgrenzung dieser Gebiete ist ja freilich in betreff der dadurch zu erzielenden Förderung der Forschung eine Sache von oft geringem praktischen Belang; auf die Arbeit kommt es ja am Ende an, die geleistet wird, und nicht auf die Flagge, unter der dies geschieht. Aber Unklarheiten über die Grenzen der verschiedenen [3] Wissenschaftsgebiete können in zwei entgegengesetzten Weisen zur Geltung kommen: entweder so, daß die Gebiete, auf denen tatsächlich gearbeitet wird, übereinander greifen, oder so, daß sie einander nicht erreichen, und infolgedessen unbearbeitetes Gebiet inmitten bleibt. Die Bedeutung solcher Unklarheiten aber ist in der Sphäre des theoretischen Interesses genau die entgegengesetzte wie in der Sphäre des praktischen. Hier ist die „neutrale Zone“ eine jederzeit erwünschte, nur selten realisierbare Bürgschaft freundnachbarlicher Beziehungen, indes das Übereinandergreifen angesprochener Grenzen den typischen Fall des Interessenkonfliktes darstellt. Dagegen ist im Bereiche theoretischer Arbeit, wo zu derlei Konflikten mindestens jeder Rechtsgrund fehlt, objektiv betrachtet das Aufeinanderfallen von Grenzdistrikten, die infolgedessen eventuell von verschiedenen Seiten her Bearbeitung finden, höchstens ein Gewinn, das Auseinanderfallen jedoch stets ein Nachteil, dessen Größe dann natürlich von der Größe und sonstigen Bedeutung des Zwischengebietes abhängen wird.

Auf ein solches bald übersehenes, bald mindestens nicht seiner Eigenart nach ausreichend gewürdigtes Wissensgebiet hinzuweisen, ist die Absicht der hiermit aufgeworfenen Frage, wo denn eigentlich die wissenschaftliche Bearbeitung des Gegenstandes als solchen und in seiner Allgemeinheit ihren sozusagen rechtmäßigen Ort hat, die Frage also, ob es unter den durch das wissenschaftliche Herkommen akkreditierten Wissenschaften eine gibt, in der man die theoretische Behandlung des Gegenstandes als solchen suchen oder von der man sie wenigstens verlangen könnte.

§2. Das Vorurteil zugunsten des Wirklichen.

Es war kein Zufall, daß die obigen Ausführungen, um zum Gegenstande zu gelangen, vom Erkennen ihren Ausgang nahmen. Gewiß, nicht nur das Erkennen „hat“ seinen Gegenstand: aber es hat ihn jedenfalls in einer ganz besonderen Weise, die es nahe legt, dort, wo vom Gegenstande die Rede ist, in allererster Linie an den Gegenstand des Erkennens zu denken. Denn der psychische Vorgang, den wir als Erkennen benennen, macht, genau genommen, für sich allein den Erkenntnistatbestand noch nicht aus: Erkenntnis ist so zusagen eine Doppeltatsache, in der dem Erkennen das [4] Erkannte als ein relativ Selbständiges gegenübersteht, auf das jenes nicht nur, etwa in der Weise falscher Urteile, gerichtet ist, das vielmehr durch den psychischen Akt gleichsam ergriffen, erfaßt wird oder wie man sonst in unvermeidlich bildlicher Weise zu beschreiben versuchen mag, was unbeschreiblich ist. Faßt man nun diesen Erkenntnisgegenstand ausschließlich ins Auge, so stellt sich die eben aufgeworfene Frage nach der Wissenschaft vom Gegenstande fürs erste in wenig günstigem Lichte dar. Eine Wissenschaft vom Gegenstande des Erkennens: besagt dies denn mehr als die Forderung, das, was als Gegenstand des Erkennens eben bereits erkannt ist, nun zum Gegenstande einer Wissenschaft, somit ein zweites Mal zum Gegenstande des Erkennens zu machen? Anders ausgedrückt: wird da nicht nach einer Wissenschaft gefragt, die entweder durch die Gesamtheit der Wissenschaften ausgemacht wird, oder noch einmal zu leisten hätte, was die sämtlichen anerkannten Wissenschaften zusammen ohnehin leisten?

Man wird sich zu hüten haben, auf solche Erwägungen hin den Gedanken einer allgemeinen Wissenschaft neben den Sonderwissenschaften für wirklich ungereimt zu halten. Was den Besten aller Zeiten als letztes und vor allem würdiges Ziel ihres Wissenstriebes vorgeschwebt hat, jenes Erfassen des Weltganzen nach seinem Wesen und seinen letzten Gründen, das kann doch nur Sache einer umfassenden Wissenschaft sein neben den Einzelwissenschaften. Wirklich hat man sich unter dem Namen der Metaphysik auch nichts anderes gedacht als eine solche Wissenschaft: und sollten der getäuschten Hoffnungen, die sich an diesen Namen geknüpft haben und knüpfen werden, noch so viele sein, es ist nur unser intellektuelles Unvermögen und nicht die Idee dieser Wissenschaft, was daran die Schuld trägt. Darf man daraufhin aber etwa so weit gehen, kurzweg die Metaphysik als diejenige Wissenschaft anzusprechen, die die Bearbeitung des Gegenstandes als solchen resp. der Gegenstände in ihrer Gesamtheit zu ihrer natürlichen Aufgabe hat?

Wenn man der Tatsache eingedenk ist, wie die Metaphysik von jeher darauf bedacht war, Fernstes wie Nächstes, Größtes wie Kleinstes in den Bereich ihrer Aufstellungen einzubeziehen, dann könnte es immerhin befremden, daß die Metaphysik die eben [5] formulierte Aufgabe deshalb nicht auf sich nehmen kann, weil sie trotz der für ihre Erfolge oft so verhängnisvoll gewordenen Universalität ihrer Intentionen für eine Wissenschaft vom Gegenstande immer noch weitaus nicht universell genug intentioniert ist. Metaphysik hat es ohne Zweifel mit der Gesamtheit dessen zu tun, was existiert. Aber die Gesamtheit dessen, was existiert, mit Einschluß dessen, was existiert hat und existieren wird, ist unendlich klein im Vergleiche mit der Gesamtheit der Erkenntnisgegenstände; und daß man dies so leicht unbeachtet läßt, hat wohl darin seinen Grund, daß das besonders lebhafte Interesse am Wirklichen, das in unserer Natur liegt, die Übertreibung begünstigt, das Nichtwirkliche als ein bloßes Nichts, genauer als etwas zu behandeln, an dem das Erkennen entweder gar keine oder doch keine würdigen Angriffspunkte fände.

Wie wenig eine solche Meinung im Rechte ist, darüber orientieren wohl am leichtesten ideale Gegenstände,5-15-1Über den Sinn, in dem ich den sprachgebräuchlich leider mehrdeutigen Ausdruck „ideal“ meine anwenden zu sollen, vgl. meine Ausführungen „Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“, Zeitschrift für Psychologie Bd. XXI, S. 198. die zwar bestehen, in keinem Falle aber existieren, daher auch in keinem Sinne wirklich sein können. Gleichheit oder Verschiedenheit sind z. B. Gegenstände dieser Art: vielleicht bestehen sie unter diesen oder jenen Umständen zwischen Wirklichkeiten; aber sie sind nicht selbst ein Stück Wirklichkeit. Daß jedoch Vorstellen so gut wie Annehmen und Urteilen sich mit diesen Gegenständen beschäftigt und oft Grund hat, sich sehr eingehend damit zu beschäftigen, steht natürlich außer Frage. Auch die Zahl existiert nicht neben dem Gezählten noch einmal, falls letzteres nämlich existiert; man erkennt das deutlich daran, daß man auch zählen kann, was nicht existiert. Desgleichen existiert der Zusammenhang nicht neben dem Zusammenhängenden, falls dieses letztere nämlich existiert: daß dies aber auch seinerseits gar nicht unerläßlich ist, das beweist etwa der Zusammenhang zwischen der Gleichseitigkeit und der Gleichwinkeligkeit beim Dreiecke. Überdies verbindet die Zusammenhangsrelation auch dort, wo es sich um Existierendes handelt, wie etwa Luftbeschaffenheit und Thermometer- oder Barometerstand, zunächst nicht so sehr diese Wirklichkeiten selbst als vielmehr [6] deren Sein oder wohl auch Nichtsein. Beim Erkennen solchen Zusammenhanges hat man es also bereits mit jenem eigentümlichen Gegenstandartigen zu tun, von dem ich gezeigt zu haben hoffe,6-16-1„Über Annahmen“, Kap. VII. daß es den Urteilen und Annahmen in ähnlicher Weise gegenübersteht wie der eigentliche Gegenstand den Vorstellungen. Ich habe dafür den Namen „Objektiv“ vorgeschlagen und dargetan, daß dieses Objektiv selbst wieder in die Funktionen eines eigentlichen Objektes eintreten, insbesondere Gegenstand einer neuerlichen, ihm wie einem Objekte zugewandten Beurteilung wie sonstiger intellektueller Operationen werden kann. Wenn ich sage „es ist wahr, daß es Antipoden gibt“, so sind es nicht die Antipoden, denen die Wahrheit zugeschrieben wird, sondern das Objektiv, „daß es Antipoden gibt“. Diese Existenz der Antipoden aber ist eine Tatsache, von der jedermann sofort einsieht, daß sie zwar sehr wohl bestehen, aber nicht ihrerseits sozusagen noch einmal existieren kann. Das gilt dann aber auch von allen übrigen Objektiven, so daß jede Erkenntnis, die ein Objektiv zum Gegenstande hat, zugleich einen Fall von Erkenntnis eines Nichtexistierenden repräsentiert.

Was hier vorerst nur an vereinzelten Beispielen dargelegt worden ist, dafür zeugt nun eine ganze hoch-, ja höchstentwickelte Wissenschaft: die Mathematik. Wirklichkeitsfremd in dem Sinne, als ob sie mit dem, was existiert, nichts zu schaffen hätte, wird man die Mathematik sicher nicht nennen wollen: es ist ja unverkennbar, eine wie weite Anwendungssphäre ihr im praktischen Leben nicht minder als in der theoretischen Bearbeitung des Wirklichen gesichert ist. Dennoch handelt rein mathematische Erkenntnis in keinem einzigen Falle von etwas, dem es wesentlich wäre, wirklich zu sein. Nirgends ist das Sein, mit dem die Mathematik als solche sich zu befassen hat, Existenz; nirgends geht sie in dieser Hinsicht über Bestand hinaus: existiert doch eine gerade Linie so wenig wie ein rechter Winkel, ein regelmäßiges Polygon so wenig als ein Kreis. Daß aber der mathematische Sprachgebrauch unter Umständen Existenz ganz ausdrücklich in Anspruch nimmt,6-26-2Vgl. K. Zindler, Beiträge zur Theorie der mathematischen Erkenntnis, Sitzungsberichte der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien, philos. hist. Kl. Bd. CXVIII, 1889, S. 33, auch 53f. kann doch nur für eine Besonderheit [7] eben dieses Sprachgebrauches gelten, und kein Mathematiker dürfte anstehen, einzuräumen, daß, was er von den seiner theoretischen Bearbeitung zu unterwerfenden Objekten unter dem Namen der „Existenz“ fordert, am Ende doch nichts anderes ist, als was man sonst „Möglichkeit“ zu nennen pflegt, immerhin vielleicht mit einer sehr beachtenswerten positiven Wendung dieses gemeinhin bloß negativ charakterisierten Begriffes.

Zusammen mit dem oben berührten Vorurteil zugunsten der Wirklichkeitserkenntnis läßt diese prinzipielle Unabhängigkeit der Mathematik von der Existenz eine Tatsache verstehen, die ohne Berücksichtigung dieser Momente billig befremden könnte. Versuche, die aufweine Systematik der Gesamtheit der Wissenschaften abzielen, finden sich der Mathematik gegenüber zumeist in einer Verlegenheit, aus der dann mehr oder minder künstliche Auskunftsmittel mit mehr oder weniger Glück heraushelfen müssen. Das steht im Grunde in auffallendem Gegensatz zu der Anerkennung, man darf geradezu sagen Popularität, die sich die Mathematik durch ihre Leistungen selbst in Laienkreisen erworben hat. Aber die Einordnung alles Wissens in Natur- und Geisteswissenschaft trägt unter dem Scheine einer vollständigen Disjunktion eben nur demjenigen Wissen Rechnung, das es mit der Wirklichkeit zu tun hat: es ist also näher besehen gar nicht zu wundern, daß die Mathematik dabei nicht zu ihrem Rechte gelangt.

§3. Sosein und Nichtsein.

Es unterliegt also keinem Zweifel: was Gegenstand des Erkennens sein soll, muß darum noch keineswegs existieren. Indes könnten die bisherigen Ausführungen immer noch der Vermutung Raum geben, die Existenz könne nicht nur durch den Bestand ersetzt werden, sondern müsse es auch, wo keine Existenz vorliegt. Aber auch diese Einschränkung ist unstatthaft. Das lehrt ein Blick auf die beiden eigentümlichen Leistungen des Urteilens und Annehmens, die ich durch die Gegenüberstellung der „thetischen und synthetischen Funktion“ des Denkens7-17-1„Über Annahmen“, S. 142ff. festzuhalten versucht habe. Im ersteren Falle erfaßt das Denken ein Sein, im [8] zweiten ein „Sosein“, jedesmal natürlich ein Objektiv, das ganz verständlich dort als Seinsobjektiv, hier als Soseinsobjektiv bezeichnet werden mag. Nun entspräche es gar wohl dem eben berührten Vorurteile zugunsten der Existenz, zu behaupten, daß von einem Sosein jedesmal nur unter Voraussetzung eines Seins geredet werden dürfte. In der Tat hätte es nicht viel Sinn, ein Haus groß oder klein, eine Gegend fruchtbar oder unfruchtbar zu nennen, ehe man wüßte, daß das Haus oder das Land existiert, existiert hat oder existieren wird. Aber die nämliche Wissenschaft, der wir oben die zahlreichsten Instanzen gegen jenes Vorurteil entnehmen konnten, läßt auch besonders deutlich die Unhaltbarkeit eines solchen Prinzips erkennen: die Figuren, von denen die Geometrie handelt, existieren nicht, wie wir wissen; dennoch sind ihre Eigenschaften, also wohl ihr Sosein, festzustellen. Ohne Zweifel wird auf dem Gebiete des bloß a posteriori Erkennbaren eine Soseinsbehauptung sich gar nicht legitimieren können, wenn sie nicht auf Wissen von einem Sein gegründet ist: und ebenso sicher mag dem Sosein, das nicht ein Sein gleichsam hinter sich hat, oft genug alles natürliche Interesse fehlen. Das alles ändert nichts an der Tatsache, daß das Sosein eines Gegenstandes durch dessen Nichtsein sozusagen nicht mitbetroffen ist. Die Tatsache ist wichtig genug, um sie ausdrücklich als das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein zu formulieren,8-18-1Zuerst ausgesprochen von E. Mally in seiner durch den Wartingerpreis 1903 gekrönten Abhandlung, die völlig umgearbeitet in Nr. III dieser Untersuchungen vorliegt. Vgl. daselbst Kap. I, §3. und der Geltungsbereich dieses Prinzips erhellt am besten im Hinblick auf den Umstand, daß diesem Prinzipe nicht nur Gegenstände unterstehen, die eben faktisch nicht existieren, sondern auch solche, die nicht existieren können, weil sie unmöglich sind. Nicht nur der vielberufene goldene Berg ist von Gold, sondern auch das runde Viereck ist so gewiß rund als es viereckig ist. Einsichten von wirklichem Belang wird man ja freilich in betreff solcher Gegenstände nur ausnahmsweise zu verzeichnen haben: gleichwohl dürfte auch von hier einiges Licht auf Gebiete fallen, die des Erkanntwerdens in vorzüglichem Maße würdig sind.

Lehrreicher jedoch als der Hinweis auf derlei dem natürlichen [9] Denken immerhin schon ziemlich fremdartige Dinge ist die Erinnerung an die triviale, den Bereich des Seinsobjektivs noch nicht überschreitende Tatsache, daß ein beliebiges Nichtseiendes den Gegenstand mindestens für solche Urteile abzugeben imstande sein muß, die dieses Nichtsein erfassen. Es ist dabei ganz unwesentlich, ob dieses Nichtsein ein notwendiges oder bloß tatsächliches ist, — nicht minder, ob im ersteren Falle die Notwendigkeit dem Wesen des Gegenstandes oder ob sie Momenten entspringt, die dem betreffenden Gegenstande äußerlich sind. Um zu erkennen, daß es kein rundes Viereck gibt, muß ich eben über das runde Viereck urteilen. Wenn Physik, Physiologie und Psychologie übereinstimmend die sogenannte Idealität der sensiblen Qualitäten behaupten, so ist damit implicite sowohl über die Farbe wie über den Ton etwas ausgesagt, nämlich, daß es streng genommen jene so wenig gibt wie diesen. Wer paradoxe Ausdrucksweise liebt, könnte also ganz wohl sagen: es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegenstände nicht gibt; und die aller Welt so geläufige Tatsache, die damit gemeint ist, wirft ein so helles Licht auf das Verhältnis der Gegenstände zur Wirklichkeit resp. zum Sein überhaupt, daß ein etwas näheres Eingehen auf die auch an sich fundamental wichtige Sache ganz und gar in den gegenwärtigen Zusammenhang gehört.

§4. Das Außersein des reinen Gegenstandes.

Das Paradoxon, das hier wirklich vorzuliegen scheint, zu beseitigen, dazu bietet sich der Rekurs auf gewisse psychische Erlebnisse ziemlich natürlich dar, und ich habe das Wesentlichste des Hierhergehörigen darzulegen versucht.9-19-1„Über Annahmen“, S. 98ff. Demgemäß wäre, wenn man sich z. B. die eben erwähnte Subjektivität der sensiblen Qualitäten gegenwärtig hält, vom Gegenstande etwa der Blauvorstellung nur im Sinne einer Fähigkeit dieser Vorstellung zu reden, der die Wirklichkeit sozusagen die Gelegenheit vorenthält, sich zu betätigen. Vom Standpunkte der Vorstellung besehen, scheint mir auch jetzt noch damit etwas ganz Wesentliches getroffen: aber ich kann mir heute nicht verhehlen, daß der Gegenstand, [10] um nicht zu existieren, das Vorgestelltwerden womöglich noch weniger nötig hat, als um zu existieren, und daß selbst, sofern er darauf angewiesen wäre, aus dem Vorgestelltwerden doch höchstens eine Existenz — die „Existenz in der Vorstellung“, also genauer die „Pseudoexistenz“10-110-1Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“ a. a. O. S. 186f. — resultieren könnte. Genauer ausgedrückt: wenn ich behaupte, „Blau existiert nicht“, so denke ich dabei in keiner Weise an eine Vorstellung und deren etwaige Fähigkeiten, sondern eben an Blau. Es ist, als ob das Blau erst einmal sein müßte, damit man die Frage nach seinem Sein oder Nichtsein überhaupt aufwerfen könne. Um aber nicht neuerlich in Paradoxien oder wirkliche Ungereimtheiten zu verfallen, mag etwa die Wendung gestattet sein: Blau und ebenso jeder andere Gegenstand ist unserer Entscheidung über dessen Sein oder Nichtsein in gewisser Weise vorgegeben, in einer Weise, die auch dem Nichtsein nicht präjudiziert. Von der psychologischen Seite könnte man die Sachlage auch so beschreiben: soll ich in betreif eines Gegenstandes urteilen können, daß er nicht ist, so scheine ich den Gegenstand gewissermaßen erst einmal ergreifen zu müssen, um das Nichtsein von ihm aussagen, genauer es ihm zuurteilen, oder es ihm aburteilen zu können.

Man könnte holten, diesem trotz seiner Alltäglichkeit doch, wie man sieht, ganz eigenartigen Sachverhalte mit etwas mehr theoretischer Strenge durch folgende Erwägung gerecht zu werden. Daß ein gewisses A nicht ist, kürzer das Nichtsein des A ist, wie ich an anderem Orte dargelegt habe,10-210-2„Über Annahmen“. Kap. VII. ganz ebensogut ein Objektiv, wie das Sein des A: und so gewiß ich berechtigt bin zu behaupten, daß A nicht ist, so gewiß kommt dem Objektiv „Nichtsein des A“ selbst ein Sein (genauer, wie oben berührt, ein Bestand) zu. Nun steht das Objektiv, gleichviel ob Seins- oder Nichtseinsobjektiv, seinem Objekte doch, wenn auch cum grano salis, ähnlich gegenüber wie das Ganze dem Teile. Ist aber das Ganze, so wird wohl auch der Teil sein müssen, was, auf den Fall des Objektivs übertragen, zu besagen scheint: ist das Objektiv, so wird auch das zugehörige Objekt in irgend einem Sinne sein müssen, selbst für den Fall, daß jenes Objektiv ein Nichtseinsobjektiv ist. Da aber ferner das Objektiv gerade verbietet, unser A für seiend zu nehmen, [11] wobei, wie wir sahen, das Sein unter Umständen nicht nur im Sinne von Existenz sondern auch im Sinne von Bestand zu nehmen sein kann, so scheint die oben aus dem Sein des Nichtseinsobjektivs erschlossene Forderung eines Seins des Objektes nur insofern Sinn zu haben, als es sich dabei um ein Sein handelt, das weder Existenz noch Bestand ist, wohl also nur insofern, als den beiden, wenn man so sagen darf, Stufen des Seins, der Existenz und dem Bestand, noch eine Art dritter Stufe beizuordnen ist. Dieses Sein müßte dann jedem Gegenstande als solchem zukommen: ein Nichtsein derselben Art dürfte ihm also nicht gegenüberstehen; denn ein Nichtsein auch in diesem neuen Sinne müßte sofort wieder die analogen Schwierigkeiten im Gefolge haben, wie sie das Nichtsein im gewöhnlichen Sinne mit sich führt und zu deren Beseitigung ja die neue Konzeption in erster Linie zu dienen hätte. Mir hat darum für dieses immerhin etwas ungewöhnlich beschaffene Sein der Terminus „Quasisein“ eine Weile ein ganz brauchbarer Ausdruck geschienen.

Was aber zunächst diese Benennung anbelangt, so hätte sie zusammen mit schon länger bewährten Bezeichnungen wie „Pseudoexistenz“ und „Quasitransszendenz“11-111-1„Über Annahmen“, S. 95. sicher die Gefahr gegen sich, zu Verwirrungen Anlaß zu geben. Wichtiger sind indes sachliche Erwägungen. Ein Sein, dem prinzipiell kein Nichtsein gegenüberstände, wird man das überhaupt noch ein Sein nennen können? Dazu ein Sein, das weder Existenz noch Bestand sein soll, — nirgends sonst, soviel sich hier urteilen läßt, findet sich Anlaß zu einem derartigen Postulat: wird man da nicht darauf bedacht sein müssen, es auch in unserer Sache, wo möglich, zu vermeiden? Was dazu hinzudrängen schien, war ein freilich sicherlich gut beobachtetes Erlebnis: A muß mir, wie wir sahen, irgendwie „gegeben“ sein, wenn ich sein Nichtsein erfassen soll. Dies leistet aber, wie ich bereits an anderem Orte dargetan habe,11-211-2A. a. O. S. 105ff. eine Annahme affirmativer Qualität: um A zu negieren, muß ich vorerst das Sein des A annehmen. Damit nehme ich freilich auf ein gewissermaßen vorgegebenes Sein des A Bezug: [12] aber es liegt ja im Wesen der Annahme, daß sie sich auf ein Sein richtet, das selbst nicht zu sein braucht.

So böte sich also am Ende doch die ohne Zweifel sehr beruhigende Aussicht, jenes wunderliche Sein des Nichtseienden für ebenso absurd nehmen zu dürfen als es klingt, schiene nicht das seiende Objektiv auf alle Fälle ein seiendes Objekt zu verlangen. Inzwischen beruht diese Forderung nur auf der Analogie zum Verhalten des Teiles zum Ganzen: das Objektiv wird dabei als eine Art Komplex, das zugehörige Objekt als eine Art Bestandstück behandelt. Das mag in mancher Hinsicht unserem zur Zeit noch so überaus mangelhaften Einblicke in das Wesen des Objektivs ganz gemäß sein: daß aber die Analogie doch nur ein erster Verlegenheitsbehelf ist, und daß man kein Recht hätte, sie auch nur einigermaßen streng zu nehmen, wird niemand verkennen. Statt also auf Grund einer fragwürdigen Analogie aus dem Sein des Objektivs ein Sein seines Objektes auch für den Fall abzuleiten, wo jenes Objektiv ein Nichtseinsobjektiv ist, wird man sich besser aus den Tatsachen, die uns beschäftigen, darüber belehren lassen, daß jene Analogie für Nichtseinsobjektive eben nicht gilt, d. h. also, daß das Sein des Objektivs keineswegs allgemein auf das Sein seines Objektes angewiesen ist.

Es ist das eine Position, die nun ohne weiteres auch für sich selbst spricht: ist der ganze Gegensatz von Sein und Nichtsein erst Sache des Objektivs und nicht des Objektes, dann ist es ja im Grunde ganz selbstverständlich, daß im Gegenstande für sich weder Sein noch Nichtsein wesentlich gelegen sein kann. Das besagt natürlich nicht, daß irgendein Gegenstand einmal weder sein noch nicht sein könnte. Ebensowenig ist damit behauptet, daß es der Natur eines jeden Gegenstandes gegenüber rein zufällig sein müßte, ob er ist oder nicht ist: ein absurder Gegenstand wie das runde Viereck trägt die Gewähr seines Nichtseins in jedem Sinne, ein idealer Gegenstand wie Verschiedenheit die seiner Nichtexistenz in sich. Wohl aber könnte, wer den Anschluß an berühmt gewordene Muster suchte, das, was sich uns oben ergeben hat, etwa zu der Behauptung formulieren, der Gegenstand als solcher, ohne Rücksicht auf gelegentliche Besonderheiten oder auf den jederzeit gegebenen Objektivbeisatz, man könnte vielleicht sagen: der reine Gegenstand stehe „jenseits von Sein und Nichtsein“. Minder ansprechend oder auch minder anspruchsvoll, dafür [13] aber meines Erachtens sonst geeigneter, ließe sich daßelbe auch etwa so aussprechen: der Gegenstand ist von Natur außerseiend, obwohl von seinen beiden Seinsobjektiven, seinem Sein und seinem Nichtsein, jedenfalls eines besteht.

Was man sonach passend den Satz vom Außersein des reinen Gegenstandes nennen könnte, beseitigt nun endgültig den Schein des Paradoxen, der zur Aufstellung dieses Satzes den nächsten Anlaß gegeben hat. Daß sozusagen um nichts mehr dazu gehört, an einem Gegenstande sein Nichtsein zu erfassen als sein Sein, das ist ohne weiteres verständlich, sobald man erkannt hat, daß, von Besonderheiten abgesehen. Sein wie Nichtsein dem Gegenstande gleich äußerlich ist. Eine willkommene Ergänzung hierzu stellt nun das oben erwähnte Prinzip von der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein dar: es sagt uns, daß dasjenige, was dem Gegenstande in keiner Weise äußerlich ist, vielmehr sein eigentliches Wesen ausmacht, in seinem Sosein besteht, das dem Gegenstande anhaftet, mag er sein oder nicht sein. Endlich sind wir eigentlich erst jetzt in der Lage, dem gegenüber ausreichend klar zu sehen, was uns oben als das Vorurteil zugunsten der Existenz oder doch des Seins aller möglichen Erkenntnisgegenstände entgegengetreten ist. Sein ist eben nicht die Voraussetzung, unter der das Erkennen gleichsam erst einen Angriffspunkt fände, sondern es ist selbst schon ein solcher Angriffspunkt. Ein eben so guter ist dann aber auch Nichtsein. Überdies findet das Erkennen bereits im Sosein eines jeden Gegenstandes ein Betätigungsfeld, das es sich durchaus nicht erst durch Beantwortung der Frage nach Sein oder Nichtsein oder gar durch deren affirmative Beantwortung zugänglich zu machen nötig hat.

§5. Gegenstandstheorie als Psychologie.

Wir wissen nunmehr, wie wenig die Gesamtheit der Gegenstände des Erkennens durch die Gesamtheit des Existierenden oder selbst des Seienden ausgemacht wird, und wie wenig darum eine noch so allgemeine Wissenschaft vom Wirklichen oder auch vom Seienden überhaupt als die Wissenschaft von den Erkenntnisgegenständen schlechthin angesehen werden könnte. Dabei war nun aber in den letzten Paragraphen eben immer nur von Gegenständen [14] des Erkennens die Rede, indes doch schon die an den Anfang dieser Ausführungen gestellte Frage davon hatte Akt nehmen müssen, daß nicht nur das Erkennen, sondern jedes Urteilen lind Vorstellen seinen Gegenstand habe, von der Gegenständlichkeit außerintellektueller Erlebnisse nun gar nicht noch einmal zu reden. Diese umfassende, ja, wie bereits einmal flüchtig berührt, vielleicht geradezu charakterisierende Bedeutung der Gegenständlichkeit für das psychische Leben kann nun den Gedanken nahe legen, wir hätten uns oben durch ausschließliche Berücksichtigung des Erkennens auf einen leicht vermeidlichen Abweg führen lassen, indem doch natürlichst diejenige Wissenschaft sich mit den Gegenständen als solchen werde zu beschäftigen haben, deren Pflicht es ist, von jener Gegenständlichkeit zu handeln, eine Aufgabe, die dem eben wieder Berührten gemäß ja doch nur der Psychologie zufallen zu können scheint.

Es wird vor allem jedenfalls eingeräumt werden müssen, daß der gegenwärtige Betrieb der Psychologie einer solchen Auffassung durchaus nicht in jeder Hinsicht entgegen ist. Es gibt ja z. B. eine Tonpsychologie nicht minder als eine Farbenpsychologie, die es keineswegs für ihre unwichtigste Aufgabe hält, die Mannigfaltigkeit der dem betreffenden Sinnesgebiete zugehörigen Gegenstände zu ordnen und auf ihre sonstige Eigenart zu untersuchen.14-114-1Vgl. einiges Nähere in meinen „Bemerkungen über den Farbenkörper und das Mischungsgesetz“. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. XXXIII, S. 3ff. Auch ist es ganz natürlich, daß die Wissenschaft von den psychischen Tatsachen die eigentümlichen Leistungen des Psychischen und insbesondere des Intellektuellen mit in Untersuchung zieht. Es wäre eine seltsame Psychologie des Urteils, die von dessen Fähigkeit keine Notiz nähme, unter ausreichend günstigen Umständen gleichsam über sich hinauszugreifen, sich in gewisser Weise der Wirklichkeit zu bemächtigen. Und gibt es außer der Wirklichkeit noch anderes, von dem sich Kenntnis nehmen läßt und von dem wir mit Hilfe gewisser intellektueller Operationen Kenntnis zu nehmen imstande sind, so wird die Psychologie sicher nicht unterlassen dürfen, unter Einem mit dieser Fähigkeit jenes Außerwirkliche mit in Betracht zu ziehen, dem die diese Fähigkeit charakterisierenden Leistungen zugewandt sind.

[15] Insofern also finden die Gegenstände des Urteilens, Annehmens und Vorstellens, ebenso die des Fühlens und Begehrens ohne Zweifel Eingang in die Psychologie: aber jedermann merkt sofort, daß dabei diese Wissenschaft auf die Gegenstände nicht um ihrer selbst willen Bedacht nimmt. Für die Praxis innerhalb wie außerhalb des Wissenschaftsbetriebes mag freilich oft genug recht nebensächlich sein, was beabsichtigter Haupterfolg, was fast nur per accidens mitgenommener Nebenerfolg ist: der Altertumskunde z. B. ist es sicherlich bestens zustatten gekommen, daß die Erfordernisse der Textinterpretation die Philologen so oft auf die „Realien“ hinwiesen. Dennoch denkt niemand daran, klassische Altertumskunde für klassische Philologie zu erklären, welch letztere sonst leicht Anspruch auf die verschiedensten Disziplinen erhellen konnte, wie ja tatsächlich die Beschäftigung mit den alten Sprachen den Ausgangspunkt für den verschiedenartigsten Wissenschaftsbetrieb abgegeben hat. Ähnlich könnte auch psychologische Forschung für Nachbargebiete Früchte tragen, zumal sofern diese zu Wissenschaften gehören, die entweder minder entwickelt sind wie die Psychologie oder wohl gar eine förmliche Anerkennung als Sonderwissenschaften noch gar nicht gefunden haben. Daß sich solches in betreif der theoretischen Bearbeitung der Gegenstände wirklich zugetragen hat, beweist vielleicht nichts deutlicher als das oben bereits erwähnte Beispiel der Farben, bei denen ohne Zweifel erst die Erforschung des psychologischen Sachverhaltes auf die des gegenständlichen, der Farbenkörper auf den Farbenraum hingeführt hat.15-115-1Vgl. a. a. O. S. 11ff. Wie wenig man gleichwohl die Psychologie für die eigentliche Wissenschaft von den Gegenständen gelten lassen dürfte, ergibt der Hinweis auf die eben schon herangezogene Sprachwissenschaft noch in einer anderen Hinsicht. Auch diese hat es ja in den Wort- und Satzbedeutungen ganz obligatorisch mit Gegenständen zu tun15-215-2Vgl. „Über Annahmen“, S. 271ff., und die Grammatik hat dem theoretischen Erfassen der Gegenstände wirklich in ganz grundlegender Weise vorgearbeitet. So ist in der Tat nicht abzusehen, unter welchem Gesichtspunkte in dieser Sache der Psychologie ein Vorrecht einzuräumen wäre: vielmehr erkennt man deutlich, wie eben keine [16] der beiden Disziplinen die gesuchte Wissenschaft von den Gegenständen sein kann.

Es müßte aber wirklich auch mit seltsamen Dingen zugehen, wenn, nachdem sich die Gesamtheit der Wissenschaften vom Seienden einschließlich der Wissenschaft von der Gesamtheit des Wirklichen dazu als unzureichend erwiesen hat, nun doch eine dieser Wissenschaften sozusagen unversehens die Eignung zeigte, die Gesamtheit der Gegenstände zu umfassen. Man kann zudem genau angeben, welcher Ausschnitt aus dieser Gesamtheit allein und zwar günstigsten Falles die Psychologie zu beschäftigen vermag. Nur für solche Gegenstände kann sich die Psychologie interessieren, auf die irgendein psychisches Geschehen wirklich gerichtet ist; kürzer könnte man vielleicht sagen: nur für solche, die tatsächlich vorgestellt werden, deren Vorstellungen also existieren, die sonach selbst wenigstens „in unserer Vorstellung existieren“, richtiger pseudo-existieren.16-116-1„Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“, a. a. O. S. 186f. Darum war oben der Farbenkörper, als der Inbegriff aller Farben, die in der Empfindung und Einbildung des Menschen wirklich vorkommen, als Angelegenheit der Psychologie zu bezeichnen, und auch er nicht mit strenger Genauigkeit, da diese Gesamtheit so wenig, als sonst je eine Punktmenge, ein Kontinuum wirklich auszumachen vermag, soweit nicht etwa Veränderungsvorgänge dabei zu Hilfe kommen.16-216-2Vgl. E. Mally in der dritten der gegenwärtigen Untersuchungen. Kap. I §15, Kap. III §20, Kap. IV §25. Dagegen ist die Konzeption des Farbenraumes nur auf die Natur der einschlägigen Gegenstände gegründet, also ganz unpsychologisch, aber zweifellos gegenstandstheoretisch, und man spürt vielleicht an dem Beispiel ganz unmittelbar, ohne Zuhilfenahme besonderer Erwägungen die prinzipielle Verschiedenheit des im einen und im anderen Falle eingenommenen Standpunktes.

Nur ein Gedanke könnte etwa noch geeignet scheinen, den Eindruck völliger Verschiedenheit zu verwischen, mindestens so viel glaublich zu machen, daß es entgegen der eben in betreff der Farben vertretenen Auffassung genau besehen doch keinen Gegenstand geben könne, der nicht ganz unvermeidlich auch als Vorstellungsgegenstand mit vor das Forum der Psychologie gehöre. [17] Auf welchem Wege immer, so könnte man meinen, wir auch dazu gelangt sein mögen, den betretenden Gegenstand der theoretischen Bearbeitung zuzuführen, wir müssen ihn am Ende doch erfaßt, Also zunächst wohl vorgestellt haben: damit ist er aber in die Reihe jener pseudoexistierenden Gegenstände getreten, die auch die Psychologie angehen. Denke ich also an ein Weiß, das heller ist, als je ein menschliches Auge eines gesehen hat oder sehen wird, so ist dieses Weiß trotzdem ein vorgestelltes Weiß, und nie könnte sich insofern eine wie immer beschaffene Theorie auf ein Unvorgestelltes beziehen.

Der Gedanke erinnert einigermaßen an das seltsamerweise immer noch nicht ganz vergessene Argument der „Idealisten“, daß „esse“, wenn auch nicht gerade „percipi“, so doch jedenfalls „cogitari“ deshalb sein müsse, weil niemand ein „esse“ denken kann, ohne — es zu denken. Und jedenfalls dürfte die Wirkung solcher Erwägungen ihrer Absicht eher entgegen als gemäß sein. Ist nämlich etwa das erwähnte Ultraweiß einmal durch eine darauf gerichtete Konzeption in den Bereich theoretischen Nachdenkens einbezogen, dann könnte aus dem so neu ins Leben getretenen psychischen Geschehnis für die Psychologie gar wohl neue Arbeit erwachsen. Unerläßlich ist es freilich keineswegs: gerade im Falle des vorliegenden Beispieles ist es kaum zu erwarten, da es verwandter Konzeptionen auch sonst schon die Fülle gibt. Aber die Möglichkeit ist sicher ins Auge zu fassen; und ist sie einmal wirklich realisiert, dann wird gerade besonders deutlich, wie wenig etwa die Konzeption des Ultraweiß schon selbst Psychologie ist. Die Gegenstandstheorie hat durch diese Konzeption ihre Arbeit gewissermaßen bereits getan, die Psychologie aber hat daraufhin die ihre eventuell erst zu tun: und da wäre es doch seltsam genug, die getane Arbeit um der erst zu tuenden willen schon für eine psychologische zu nehmen.

§6. Gegenstandstheorie als Theorie der Erkenntnisgegenstände.

Was sonach die Psychologie in keiner Weise zu leisten vermag, möchte mit weit besseren Aussichten dort zu suchen sein, wo Tatsachen untersucht werden, an deren Charakteristik dem [18] Gegenstande ein konstitutiver Anteil zukommt. Nach Früherem kann nicht wohl zweifelhaft sein, daß im Erkennen Tatsachen dieser Art vorliegen. Erkennen ist ein Urteilen, das nicht etwa bloß zufällig, sondern seiner Natur nach, sozusagen von innen heraus wahr ist: wahr aber ist ein Urteil, nicht zwar sofern es einen existierenden oder auch nur einen seienden Gegenstand hat, wohl aber, sofern es ein seiendes Objektiv erfaßt. Daß es schwarze Schwäne gibt, ein Perpetuum mobile aber nicht, ist beides wahr, obwohl es sich einmal um einen existierenden, das andere Mal um einen nichtexistierenden Gegenstand handelt: dort besteht eben das Sein, hier das Nichtsein des betreifenden Gegenstandes. An das Sein dieser Objektive ist die Wahrheit jedesmal gebunden und wird dadurch teilweise ausgemacht. Das Urteil wäre ja nicht wahr, wenn das betreffende Objektiv nicht wäre. Das Urteil wäre auch nicht wahr, wenn es anders beschaffen wäre, als es ist, und deshalb mit den Tatsachen gleichsam nicht zusammenstimmte. Das Zusammentreffen dieses subjektiven und jenes objektiven Erfordernisses kann dabei ein ganz und gar zufälliges sein: so etwa, wenn man aus falschen Prämissen eine wahre Konklusion zieht.

Solche Zufälligkeit oder Äußerlichkeit ist nun freilich dem Verhältnis zwischen Erkennen und Erkanntem fremd: hier liegt es in der Natur des Urteils, daß dieses nicht sozusagen neben dem zu Erkennenden vorbei trifft, und diese Eigenart des Erkennens kommt vor dem Forum der Psychologie in dem zur Geltung, was man als Evidenz kennt. Aber das evidente Urteil macht für sich die Tatsache des Erkennens nicht aus: wesentlich ist das Erfassen des Objektes resp. des Objektivs, wozu das Sein des letzteren unerläßlich ist. In dieser Hinsicht steht das Erkennen dem sozusagen per accidens wahr Urteilen völlig gleich, und eben deshalb konnte bereits im Anfange der gegenwärtigen Darlegungen das Erkennen als Doppeltatsache bezeichnet werden. Wer dieser Doppeltatsache aber wissenschaftlich näher kommen will, darf sich dann nicht auf deren psychologischen Aspekt beschränken, muß vielmehr auch die zweite Seite, d. i. die seienden Objektive und die in diese implizierten Objekte ganz ausdrücklich als einen Teil der ihm gestellten Aufgabe in Betracht ziehen.

Wir gelangen damit in betreff unserer Hauptfrage einigermaßen auf einen Standpunkt zurück, den wir eben erst im vorigen [19] Paragraphen unter Berufung darauf verlassen haben, daß nicht bloß dem Erkennen Gegenstände eignen, sondern auch falschen Urteilen, Vorstellungen und ganz außerintellektuellen psychischen Betätigungen. Sind wir nun eben zum Ergebnis gelangt, daß die Lehre von den Gegenständen doch wohl natürlichst im Zusammenhange mit der wissenschaftlichen Bearbeitung des Erkennens anzutreffen sein möchte, so liegt nun die Frage nahe, ob durch die Beschränkung auf das Erkennen resp. den Ausschluß der übrigen psychischen Geschehnisse nicht eben doch auch ein Teil der Gegenstände ausgeschieden und so die Allgemeinheit aufgegeben sei, auf die bei Bearbeitung der Gegenstände als solcher doch nicht wohl verzichtet werden könnte.

Inzwischen ist dieses Bedenken unbegründet. Um dies einzusehen, muß man sich vor allem auf einen charakteristischen Unterschied besinnen, der zwischen Psychologie und Wissenschaft vom Erkennen besteht. Es versteht sich von selbst, daß die Psychologie nur mit den wirklichen psychischen Geschehnissen zu tun hat und nicht mit den bloß möglichen. Eine Wissenschaft vom Erkennen wird sich ähnliche Schranken nicht setzen dürfen, schon weil Wissen als solches Wert hat, so daß hier etwas das nicht ist. aber sein könnte, die Aufmerksamkeit als Desiderat erst recht auf sich zieht. Demgemäß kommen hier als Gegenstände unseres Wissens nicht nur die sämtlichen pseudoexistierenden, also wirklich beurteilten resp. vorgestellten Gegenstände, sondern alle Gegenstände in Frage, die auch nur der Möglichkeit nach Gegenstände unseres Erkennens sind. Es gibt aber keinen Gegenstand, der nicht wenigstens der Möglichkeit nach Erkenntnisgegenstand wäre, wenn man sich auf den Standpunkt der auch sonst oft ganz instruktiven Fiktion stellt, daß die Erkenntnisfähigkeit durch keine der in der Konstitution des Subjektes gelegenen und darum tatsächlich nie ganz fehlenden Einschränkungen von der Art der Reiz-, Unterschiedsschwellen u. dgl. beeinträchtig wäre. Unter Voraussetzung einer unbegrenzt leistungsfähigen Intelligenz also gibt es nichts Unerkennbares, und was erkennbar ist, das gibt es auch, oder, weil „es gibt“ doch vorzugsweise von Seiendem, ja speziell von Existierendem gesagt zu werden pflegt, wäre es vielleicht deutlicher, zu sagen: Alles Erkennbare ist gegeben — dem Erkennen nämlich. Und sofern alle Gegenstände erkennbar sind, [20] kann ihnen ohne Ausnahme, mögen sie sein oder nicht sein, Gegebenheit als eine Art allgemeinster Eigenschaft nachgesagt werden.

Die Konsequenz für das Verhältnis der Gegenstände des Erkennens zu Gegenständen anderer psychischer Betätigungen braucht nun kaum mehr ausdrücklich gezogen zu werden. Gegenstände, zu was für Erlebnissen auch immer sie gehören mögen, sind ganz unfehlbar auch Erkenntnisgegenstände. Wer also die Gegenstände sozusagen vom Standpunkte des Erkennens aus wissenschaftlich zu bearbeiten unternimmt, braucht nicht zu besorgen, er könnte durch diese Stellung der Aufgabe irgendein Gebiet aus der Gesamtheit der Gegenstände ausschließen.

§7. Gegenstandstheorie als „reine Logik“.

Es entspricht altem Herkommen, dort, wo von einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Erkennens die Rede ist, zunächst an die Logik zu denken; und wirklich sind erst in allerjüngster Zeit für einen ihrer Hauptteile, die sogenannte reine oder formale Logik20-120-1Vgl. E. Husserl, „Logische Untersuchungen“, 2 Bde. Leipzig und Halle 1900 und 1901. Ausdrücklich identifiziert werden „reine“ und „formale“ Logik z. B. Bd. I, S. 252. Aufgaben gestellt worden20-220-2Insbesondere Bd. I, S. 243ff., auch Bd. II, S. 92ff., die mit dem, was von einer theoretischen Bearbeitung der Gegenstände als solcher billig verlangt werden muß, in unverkennbarer Weise zusammen stimmen. Ich habe meine prinzipielle Zustimmung zu E. Husserl’s Eintreten gegen den „Psychologismus“ in der Logik bereits an anderem Orte20-320-3„Über Annahmen“, S. 196. und zu einer Zeit ausgesprochen, da ich aus äußeren Gründen von dem umfangreichen Werke des genannten Autors nur eine ganz vorläufige und auch noch sehr unvollständige Kenntnis hatte nehmen können. Heute, nachdem ich den Verdiensten der in Rede stehenden Publikation durch eingehendes Studium einigermaßen gerecht geworden zu sein hoffe, kann ich den Ausdruck meiner Zustimmung nicht nur durchaus aufrecht erhalten, sondern sie außer auf vieles andere auch auf jene „Aufgaben“ ausdehnen, und es ist da vielleicht nur ein Dissens von relativ [21] untergeordneter Wichtigkeit, wenn ich diese Aufgaben nur nicht gerade jener „reinen Logik“ zuweisen möchte.

Mir scheint hierfür vor allem der Umstand maßgebend, daß, soviel ich sehe, der Gedanke an Logik von dem an eine Kunstlehre im Interesse der Leistungsfähigkeit unseres Intellektes ohne Gewaltsamkeit nicht zu trennen, daß die Logik also unter allen Umständen eine „praktische Disziplin“21-121-1Näheres habe ich in meiner Schrift „Über philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik“, Wien 1885 darzulegen versucht, vgl. insbesondere S. 96f. bleibt, bei deren Bearbeitung sich höchstens der Übergang zu dem vollziehen mag, was ich gelegentlich als „theoretisch-praktische Disziplin“ charakterisiert habe.21-221-2A. a. O. S. 98. Eine Logik also, welche von allen praktischen Intentionen „gereinigt“ und deshalb als „reine Logik“ zu bezeichnen wäre,21-321-3Beim äquivalenten Terminus „formale Logik“ kommt mir überdies noch die Erinnerung an all das in den Weg, was man an dem so lange unter diesem Namen fast ausschließlich Gelehrten mit Recht bekämpft und so ziemlich überwunden hat. Sollte dem eine bloß individuelle Eigenheit zugrunde liegen? Kommt darin nicht vielleicht auch die geringe Eignung des Ausdruckes „Form“ zur Geltung, für das, was er besagen soll, mindestens ein einigermaßen deutliches Bild zu bieten? möchte ich darum lieber überhaupt nicht mehr Logik nennen, vielmehr die der „reinen Logik“ gestellten Aufgaben nur der theoretischen Disziplin oder einer der theoretischen Disziplinen zuweisen, auf die die Logik gleich jeder anderen praktischen Disziplin am Ende zurückgehen muß.

Daß in diesem Sinne nicht etwa ausschließlich auf die Psychologie zu rekurrieren ist, darüber bin ich, wie oben neuerlich berührt, mit dem Verfasser der „Logischen Untersuchungen“ durchaus Einer Meinung. Ja, wenn ich die Leitbegriffe in Betracht ziehe, auf die er gerade in seiner Polemik gegen den „Psychologismus“ zum Zwecke der Charakteristik jenes außerpsychologischen Wissensgebietes immer wieder zurückkommt, so fällt es mir schwer, mich des Eindruckes zu entschlagen, als hätte sich unser Autor von dem, was er mit ebensoviel Eifer als Recht bekämpft, selbst noch nicht ganz frei zu erhalten vermocht. Mit „Begriffen“, „Sätzen“, „Schlüssen“ u. dgl. soll es die „reine Logik“ zu tun haben. Aber sind Begriffe nicht am Ende doch zwar vielleicht zu theoretischen Zwecken bearbeitete Vorstellungen, aber eben doch Vorstellungen? Und wenn man beim „Satze“ von der sich [22] so sehr aufdrängenden grammatikalischen Bedeutung dieses Wortes absieht, wie dies z. B. von Bolzano ausdrücklich verlangt worden ist, wird man dann auch noch ebenso von dem durch den Satz der Grammatik ausgedrückten psychischen Vorgang (Annahme oder Urteil) absehen können, oder genauer, wenn man dies tut, was behält man noch übrig, das auf den Namen „Satz“ einigermaßen Anspruch erheben kann? Immerhin gibt es hier aber doch noch einen außerpsychologischen Sinn, in dem man, freilich kaum je ohne das Gefühl ziemlich übertragenen Wortgebrauches, von „Satz des Widerspruches“, vom „Carnot’schen Satz“ redet usf.22-122-1Es handelt sich dabei natürlich um Objektive, vgl. „Über Annahmen“ S. 197 Anm. Ganz und gar fehlt, soviel ich sehe, ein solcher Sinn dem Worte „Schluß“; denn redet man auch ganz natürlich von „dem“ Schluß nach dem Modus darapti, von „dem“ hypothetischen Schlüsse u. dgl., so ist damit nicht weniger ein intellektueller Vorgang oder etwa dessen mögliches Ergebnis gemeint, als mit „dem“ Blutkreislaufe ein physiologischer Vorgang.

Darum würde mir auch durch den Hinweis auf „objektive“ Schlüsse und Beweise im Gegensatze22-*22-*[„Gegensatz“ in Werle.] zu den subjektiven22-222-2Logische Untersuchungen Bd. II S. 26, auch 94, 101. die Sachlage eher verdunkelt als geklärt erscheinen, dürfte ich nicht aus dem ganzen Tenor der „Logischen Untersuchungen“ und aus vielen Einzelausführungen darin die Überzeugung schöpfen, daß trotz mannigfacher, zur Zeit unvermeidlicher Divergenzen im Detail es in der Hauptsache doch die nämlichen Ziele sind, auf die unseren Autor seine mathematisch-philosophischen Forschungen22-322-3Vgl. a. a. O. Vorrede zu Bd. I, S. V., mich die aus teils wirklich, teils vermeintlich psychologischen Erwägungen heraus entsprungene Auseinanderhaltung von Inhalt und Gegenstand22-422-4„Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“, S. 185ff. und noch mehr die von Objekt und Objektiv22-522-5„Über Annahmen“, S. 150ff. hingedrängt hat. Unter solchen Umständen wird es dieser gemeinsamen Sache förderlicher sein, wenn ich, statt bei den obigen, vielleicht ohnehin vorwiegend terminologischen Bedenken und ihresgleichen zu verweilen, lieber sogleich kurz darzulegen versuche, in welcher Weise meines Erachtens der trotz der ihr zugewandten [23] Aufmerksamkeit vielleicht immer noch nicht ganz beseitigten Gefahr des „Psychologismus“ in einigermaßen ausreichender Weise zu begegnen sein möchte.

§8. Gegenstandstheorie als Erkenntnistheorie.

Zuvor sei aber aus dem oben ausgesprochenen Bedenken gegen den Ausdruck „reine Logik“ eine außerordentlich nahe liegende praktische Konsequenz gezogen. Der Name für eine Lehre vom Wissen, die sich keine praktischen Ziele steckt, sonach eine theoretische Wissenschaft darstellt, braucht ja längst nicht mehr erfunden zu werden. Auch könnte man sich dafür nichts Natürlicheres wünschen als die Bezeichnung „Theorie des Erkennens“, oder kürzer „Erkenntnistheorie“. Ich will also statt von „reiner Logik“ von „Erkenntnistheorie“ reden und holte nun zu zeigen, daß die Sache des „Psychologismus“ in der Erkenntnistheorie uns sogleich wieder zur Lehre von den Gegenständen zurückführen wird, von der die obigen Bemerkungen uns anscheinend einigermaßen entfernt haben könnten.

„Psychologismus“ als Bezeichnung für eine natürliche oder auch auf bestimmte Überlegungen gegründete Neigung oder Bereitschaft, die Lösung von Problemen mit vorwiegend psychologischen Mitteln in Angriff zu nehmen, involviert an sich keinen Tadel.23-123-1Dafür bürgt mir in eigenster Sache die bewährte Objektivität Überweg-Heinze’scher Tatsachendarstellung, die mein eigenes wissenschaftliches Tun unter den Gesamttitel „Psychologismus“ einordnet („Grundriß der Geschichte der Philosophie“, 9. Aufl., 4. Teil, S. 312 ff.) In welchem Sinne ich selbst dieser Charakteristik zustimmen zu dürfen meine, vgl. „Über Annahmen“ S. 196. Innerhalb eines gewissen Problemenkreises aber, eben desjenigen, mit dem wir es hier zu tun haben, fehlt dem Worte eine ablehnende Färbung keineswegs: man meint damit eben kurzweg psychologische Behandlungsweise am unrechten Orte. Da Erkennen ein Erlebnis ist, so wird aus der Erkenntnistheorie die psychologische Betrachtungsweise gewiß nicht prinzipiell zu verbannen sein; auch von Begriffen. Sätzen (Urteilen resp. Annahmen), Schlüssen u. dgl. wird sie zu handeln haben, und zwar psychologisch. Aber dem Erkennen steht das Erkannte gegenüber; das Erkennen ist, wie bereits wiederholt berührt, eine Doppeltatsache. [24] Wer die zweite Seite dieser Tatsache vernachlässigt, also in der Weise Erkenntnistheorie treibt, als gäbe es nur die psychische Seite am Erkennen, oder wer jene zweite Seite unter den Gesichtspunkt des psychischen Geschehnisses zwängen will, dem wird der Vorwurf des Psychologismus nicht zu ersparen sein.

Und können wir uns einigermaßen klar machen, worauf sich eigentlich die Gefahr gründet, in solchen Psychologismus zu geraten, die Gefahr, der kaum irgend einer, der sich mit erkenntnistheoretischen Dingen beschäftigt hat, seinen Tribut vorenthalten haben wird? Jene Doppelseitigkeit des Erkennens ist auffällig genug, daß sie kaum jemand übersehen könnte, gäbe es nur Existierendes zu erkennen. Aber schon die ganze Mathematik, besonders auffällig die Geometrie, handelt, wie wir sahen, von Nichtwirklichem; und so führt das wiederholt erwähnte Vorurteil zugunsten der Wirklichkeit schon hier zu einem ganz einleuchtend scheinenden und doch im Grunde so wunderlichen Dilemma, dessen man sich explicite freilich nicht leicht bewußt werden mag, das sich aber etwa so formulieren läßt: Entweder es existiert das, dem sich das Erkennen zuwendet, in Wirklichkeit, oder es existiert doch wenigstens „in meiner Vorstellung“, kürzer: es „pseudoexistiert“. Für die Natürlichkeit dieser Disjunktion legt vielleicht nichts beredteres Zeugnis ab, als die Anwendung des Wortes „ideal“, das für das moderne Sprachgefühl ja ohne Rücksicht auf alle Geschichte so viel als „gedacht“ oder „bloß vorgestellt“ bedeutet und dadurch ganz von selbst allen jenen Gegenständen zufallen zu müssen scheint, die nicht existieren oder wohl gar auch nicht existieren können. Was nicht außer uns existiert, muß, so denkt man unwillkürlich, doch wenigstens in uns existieren: es gerät damit vor das Forum der Psychologie und man kann dann am Ende noch dem Gedanken Raum geben, ob sich nicht auch das Erkennen des Existierenden und mit diesem Erkennen die Wirklichkeit selbst „psychologisch“ behandeln lasse.

Und vielleicht läßt sich nun jenes Wirklichkeitsvorurteil selbst noch einen Schritt zurück verfolgen, indem man die Wahrheit aufzeigt, der es entsprungen sein könnte. Es wäre sicher irrig, zu meinen, daß jedes Erkennen von Existenz oder von einem Existierenden handeln müßte: ist es aber nicht richtig, daß es am Ende doch jedes Erkennen als solches mit einem Seienden zu tun [25] hat? Das Seiende, die „Tatsache“, ohne die kein Erkennen für Erkennen gelten dürfte, ist das durch den betreffenden Erkenntnisakt erfaßte Objektiv, dem ein Sein, genauer Bestand zukommt, mag es positiv oder negativ, mag es ein Sein oder ein Sosein sein. Wäre es allzu gewagt, zu vermuten, diese jedem Erkennen unfehlbar beigegebene Tatsächlichkeit seines Objektivs habe eine Art Übertragung auf das von der Theorie ohnehin fast allein beachtete Objekt erfahren, um dann etwa noch zur stillschweigenden Forderung der Wirklichkeit alles dem Erkennen Gegenüberstehenden übertrieben zu werden?

Die Frage darf hier unentschieden bleiben: nicht Psychologie des Psychologismus ist unsere Aufgabe. Soviel aber steht wohl außer Zweifel, daß der Psychologismus in der Erkenntnistheorie allenthalben auf Vernachlässigung oder Verkennung der Gegenstandsseite der Erkenntnistatsache zurückgeht, das Wort „Gegenstand“ in jenem weitesten Sinne genommen, in dem dieser auch das Objektiv in sich einbegreift. Wer die Bedeutung und Eigenart des Objektivs nicht erfaßt hat, wer infolgedessen das jedem Erkennen zugehörige Sein am Objekte sucht, daher die Eventualität des Nichtseins und Soseins nicht ausreichend würdigt und wohl gar noch in allem Seienden ein Wirkliches antreffen zu müssen meint, der verfällt dem Psychologismus. Und wer sich von diesem frei erhalten will, braucht sich zwar sicher nicht zur Aufgabe zu machen, etwa alle Psychologie von der Erkenntnistheorie sorgfältig fern zu halten: Psychologie des Erkennens wird vielmehr jederzeit einen integrierenden Teil der Erkenntnistheorie ausmachen müssen; er wird sich nur zu hüten haben, in der Erkenntnistheorie für Psychologie zu nehmen, was eben — Theorie der Gegenstände ist und bleiben muß.

Stellt sich uns so die Theorie der Erkenntnisgegenstände oder kürzer die Gegenstandstheorie als ein integrierender Bestandteil der Erkenntnistheorie dar25-125-1Übereinstimmend neuestens A. Höfler, „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“ in Heft 2 der „Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft“ herausg. von F. Poske, A. Höfler und E. Grimsehl, Berlin 1904, S. 151 (91 der Sonderausgabe)., so könnte damit leicht auch die Antwort auf die Ausgangsfrage gegenwärtiger Darlegungen gefunden sein. Der eigentliche Ort für die Untersuchung der Gegenstände [26] als solcher, so könnten wir dann sagen, ist die Erkenntnistheorie. Und in der Tat ist dies ein Ergebnis, bei dem man sicher ohne erheblichen Schaden für die Gegenstandstheorie stehen bleiben könnte. Erkenntnistheorie wird um so gewisser, je deutlicher sie sich ihrer Aufgaben bewußt wird, einem fundamentalen Teile nach Lehre von dem zu Erkennenden, vom „Gegebenen“ in dem oben gebrauchten Sinne des Wortes, also von den Gegenständen in ihrer Gesamtheit werden und bleiben, und erkenntnistheoretische Interessen werden den gegenstandstheoretischen sicher oft genug in natürlichster Weise den Weg bereiten. Dennoch wird man, wenn ich recht sehe, noch um einen Schritt weiter gehen müssen, will man den Ansprüchen wirklich gerecht werden, die eine Theorie der Gegenstände vermöge ihrer Eigenart zu erheben befugt ist.

§9. Gegenstandstheorie als eigene Wissenschaft.

Darauf weist eigentlich schon die Stellung der anderen Wissenschaft hin, der wir eben an der Seite der Gegenstandstheorie einen fundamentalen Anteil an der Erkenntnistheorie zusprechen mußten: der Psychologie. Es kann, wie wir als selbstverständlich erkannt haben, keine Erkenntnistheorie geben, die sich nicht mit dem Akte des Erkennens beschäftigte und insofern nicht auch Psychologie des Erkennens wäre. Aber niemand möchte darum die Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften durch ihre Bedeutung für die Erkenntnistheorie für ausreichend charakterisiert halten, niemand wird in der Psychologie nichts weiter als ein Stück Erkenntnistheorie sehen wollen. Wird man sich bei der Gegenstandstheorie mit einer ganz analogen Kennzeichnung zufrieden geben dürfen? Ist es etwa für das Interesse an den Gegenständen wesentlich, durch das Interesse am Erkennen gleichsam hindurch zu gehen?

Daß dem nicht so sei, darüber hat so ziemlich jeder, der gegenstandstheoretischen Problemen etwas näher getreten ist, ganz ausreichende direkte Erfahrungen. Minder direkte, aber nicht minder deutliche Auskunft gibt die Erwägung, inwieweit denn etwa alles gegenstandstheoretische Detail, auf das die einschlägige Forschung bereits gefühlt hat und in noch weit ausgiebigerem Maße in Zukunft führen wird, den Problemen der Erkenntnistheorie [27] nutzbar zu machen ist. Man kann, wie es auch oben geschehen ist, die grundlegende Bedeutung gewisser gegenstandstheoretischer Ergebnisse etwa in Sachen des erkenntnistheoretischen Psychologismus und auch sonst vollauf würdigen und gleichwohl einräumen, daß die Gegenstandstheorie auch Aufgaben stellt, an deren Lösung man vorerst nur wegen des ihnen um ihrer selbst willen zukommenden Interesses herantritt.

Besonders deutlich wird dies unter einer Voraussetzung, die immerhin noch manches Ungeklärte an sich haften haben mag, mit der ich aber in der Hauptsache nicht fehlzugehen fürchte. Ich hatte oben auf die Tatsache hinzuweisen, daß man im System der Wissenschaften für die Mathematik eigentlich nie einen recht natürlichen Platz hat ausfindig machen können. Irre ich nicht, so hatte das der Hauptsache nach darin seinen Grund, daß der Begriff der Gegenstandstheorie noch nicht gebildet war; die Mathematik aber im wesentlichen ein Stück Gegenstandstheorie ist. Ich sage „im wesentlichen“ und möchte damit, das meinte ich mit den eben berührten Ungeklärtheiten, die Eventualität einer noch irgendwie ganz eigenartigen Differentiation mathematischer Interessen ausdrücklich offen gelassen haben.27-127-1Vgl. als Anfang einschlägiger Feststellungen E. Mally in Nr. III dieser Untersuchungen, Einl. §2, Kap. VII, §40f. Von derlei abgesehen scheint mir ganz offenbar, daß der Mathematik auf ihrem Gebiete innerliche und äußerliche Momente den Vorzug gesichert haben, zu leisten, was für das Gesamtgebiet der Gegenstände durchzuführen sich die Gegenstandstheorie zur Aufgabe stellen, oder wohl nur als freilich unerreichbares Ideal vor Augen halten muß. Hat es aber damit seine Richtigkeit, dann ist vollends unverkennbar, wie wenig gegenstandstheoretische Interessen, sobald ihnen einigermaßen ins Speziellere hinein Rechnung getragen wird, noch erkenntnistheoretische Interessen sind.

Ich ziehe aus dem Dargelegten den Schluß, daß die Gegenstandstheorie auf die Stellung einer auch der Erkenntnistheorie gegenüber selbständigen Disziplin und damit auf die einer selbständigen Wissenschaft schlechthin Anspruch hat. Da dieser Anspruch nicht für etwas Fertiges erhoben werden kann, sondern im Gegenteil für ein kaum den ersten Anfängen nach Verwirklichtes, [28] so liegt in der hohen Entwicklung eines Teiles dieses vorerst mehr geforderten als aufzuweisenden Ganzen ein kaum gering anzuschlagendes äußeres Hindernis für die Anerkennung des in Rede stehenden Anspruches. Leicht könnte es ein Mathematiker als eine nicht ganz geringfügige Zumutung verspüren, wenn er einräumen sollte, daß er „eigentlich“ Gegenstandstheoretiker sei. Aber auch vom Physiker oder Chemiker wird niemand verlangen, er solle sich für einen Metaphysiker halten, einmal, weil man eine bereits vorhandene Wissenschaft nicht nach einer vorerst bloß erstrebten wird charakterisieren oder gar benennen können, dann aber, weil eine relativ allgemeinere Wissenschaft als solche sich Ziele stecken kann, ja muß, die der relativ speziellen fremd sind. Dieser zweite Punkt wird im Verhältnis der Mathematik zur Gegenstandstheorie dadurch einigermaßen verdunkelt, daß im Gebiete der letzteren die Mathematik nicht eine, sondern, zur Zeit wenigstens, die einzige in ihrer Eigenart bekannte und anerkannte SpezialWissenschaft repräsentiert. Dadurch ist der Gegenstandstheorie vorerst eine doppelte, in ihren Teilen vielleicht recht ungleichartige Aufgabe zugewiesen, einerseits die einer Wissenschaft von allergrößter Allgemeinheit resp. Umfänglichkeit, andererseits die, gewissermaßen an die Stelle sämtlicher einschlägigen SpezialWissenschaften zu treten, denen eine Sonderbehandlung bisher nicht zuteil geworden ist. Durch die hierin liegende Nötigung im Bedarfsfalle auch in relativ speziellere Gebiete herabzusteigen, wird dann unvermeidlich wieder der Charakter der Allgemeinwissenschaft verdunkelt, und die Subsumtion der Mathematik in das Gebiet der Gegenstandstheorie kann dann leicht die Eigenart und Eigenberechtigung der ersteren zu bedrohen scheinen.

Aber derlei Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten dürfen der Einsicht in die innere Zusammengehörigkeit, soweit eine solche vorliegt, nicht in den Weg treten. Am besten wird man vielleicht der immerhin nicht ganz einfachen Sachlage Rechnung tragen, wenn man etwa sagt: Mathematik ist sicher nicht Gegenstandstheorie, sondern nach wie vor eine Wissenschaft für sich; aber ihre Gegenstände liegen im Bereiche dessen, das in seiner Totalität die auch ihrerseits eigenberechtigte Gegenstandstheorie zu bearbeiten hat.

§10. Gegenstandstheorie in anderen Wissenschaften. Allgemeine und spezielle Gegenstandstheorie.

[29] Die Wissenschaftslehre kann dem Stoffe gegenüber, mit dem sie es zu tun hat, das ist den verschiedenen Wissenschaften gegenüber, je nach Umständen einen doppelten Standpunkt einnehmen. Am natürlichsten geht es sicher zu, wenn sie sich an das Prinzip aller Tatsachenwissenschaft halten kann: erst die Tatsachen, dann die Theorie. Erst müssen eben die mancherlei Wissenschaften gegeben sein: dann mag sich das Bedürfnis geltend machen, auf ihr Wesen und gegenseitiges Verhältnis etwas näher einzugehen. Aber Wissenschaft ist, zum Teil wenigstens, auch das Ergebnis vorbedachten Tuns: im Dienste solcher Vorbedachtsamkeit kann die Wissenschaftslehre auch von Wissenschaften handeln, die es noch nicht gibt, aber geben sollte, und kann sich darauf hingewiesen finden, Begriff und Aufgaben solcher Wissenschaften so gut zu präzisieren, als derlei vorgängig eben möglich ist.

Auch wir haben uns im vorstehenden durch das Interesse für die Gegenstände auf Erwägungen hingedrängt gefunden, die der Wissenschaftslehre zugehören. Letzterer obliegt es dabei, in der zweiten der eben angegebenen Weisen zu funktionieren: die Gegenstandstheorie, die wir als eigene Wissenschaft in Anspruch nehmen mußten, ist der Hauptsache nach eine Wissenschaft, die, zumal als in ihrer Eigenberechtigung ausdrücklich anerkannte Sonderdisziplin, zur Zeit so gut wie noch gar nicht existiert. Nun ist dies aber keineswegs so zu verstehen, als ob bisher Gegenstandstheorie der Sache nach so wenig getrieben worden wäre als dem Namen nach. Und mag auch, den vermutlich äußerst zahlreichen und engen Anschlüssen an bisher betretene Gedankenwege genauer nachzugehen, dann erst eigentlich an der Zeit sein, wenn die neu geforderte Wissenschaft durch das, was sie zu bieten vermag, sich einigermaßen selbst legitimiert haben wird, so dürfte es doch dem hier von mir versuchten Eintreten für die neue Wissenschaft nicht ungünstig sein, es wenigstens nicht an allen Hinweisen darauf fehlen zu lassen, daß durch dieselbe nur längst gefühlten und bereits in der verschiedensten Weise zu einem gewissen Ausdruck gelangten Bedürfnissen unter Bedürfnissen Herausarbeitung verbreitetster, nur vielleicht ihrem eigentlichen Zielpunkte nach [30] oft unerkannt gebliebener Interessen Rechnung getragen werden möchte.

In der Tat meine ich, daß es besonderer historischer Nachforschungen wahrlich nicht bedarf, um zu erkennen, daß Gegenstandstheorie bisher zwar wahrscheinlich noch nicht „explizite“, um so häufiger aber „implizite“ getrieben worden ist, wobei noch hinzugefügt werden muß, daß es, für die Praxis wenigstens, in der Implikation Grade gibt, die den Übergang zum Tatbestande des Expliziten geradezu als einen fließenden erscheinen lassen können. Wer solchen Übergängen und den Ansätzen dazu nachgehen will, wird berücksichtigen müssen, daß wir gegenstandstheoretische Interessen sozusagen an zwei verschiedenen Orten angetroffen haben: bei Fragen, die gewisse speziellere Gegenstandsgebiete für sich, und bei Fragen, die das Gesamtgebiet der Gegenstände anlangen. Wir können in diesem Sinne, und wäre es auch nur zur augenblicklichen Verständigung, spezielle und allgemeine Gegenstandstheorie auseinanderhalten.

Nun wurde oben bereits darauf hingewiesen, daß spezielle, in gewissem Sinne speziellste Gegenstandstheorie in der Mathematik die glänzendste Repräsentation gefunden hat, die man sich nur wünschen kann. Dieser Glanz hat längst zu dem Streben geführt, die Behandlungsweise „more mathematico“ auch anderen Wissens-, ich darf wohl kurzweg sagen, Gegenstandsgebieten zugänglich zu machen, und es wird schwerlich ein erheblicher Fehler unterlaufen, wenn hinzugefügt wird: wo immer solche Versuche unternommen worden sind, hat man zugleich auch versucht, spezielle Gegenstandstheorie auf außermathematischem Gebiete zu treiben. Freilich darf dabei nicht etwa jede Anwendung mathematischer Verfahrungsweisen mit in Anschlag gebracht werden: wenn der Kaufmann oder der Ingenieur rechnet, so hat er dabei mit Gegenstandstheorie so wenig zu tun, als mit sonst einer Theorie. Aber gewisse gegenständliche Voraussetzungen liegen natürlich auch jeder solchen praktischen Anwendung zugrunde, und es ist damit nicht anders bewandt, wenn die Anwendung einmal im theoretischen Interesse erfolgt. Dabei kann die Natur dieser Voraussetzungen gegenüber der die ganze Aufmerksamkeit beanspruchenden Rechentechnik völlig in den Hintergrund treten, wie am deutlichsten das Beispiel der Wahrscheinlichkeitslehre oder auch der Fehlertheorie [31] beleuchtet, deren natürliche Zugehörigkeit zur Logik resp. Psychologie auch heute noch keineswegs von jedermann erkannt oder gar anerkannt sein wird. Die Natur dieser Voraussetzungen nun kann die betreffenden Rechnungsoperationen eventuell ganz direkt in den Dienst der Gegenstandstheorie stellen, wie sich leicht am Beispiele der Kombinationslehre ersehen läßt. Bereitwilliger als die Arithmetik scheint indes noch die Geometrie gegenstandstheoretischen Feststellungen über ihre engsten Grenzen hinaus die Hand zu bieten. Betrachtet man nämlich wie bei jener die Zahlengrößen, so bei dieser die Raumgrößen als das ihr eigentlich zugehörige Gebiet, dann ist bereits alles, was sich als die jedermann so geläufige Übertragung geometrischer Betrachtungsweisen vom Baume auf die Zeit darstellt, außermathematisch, zugleich aber, weil an die sogenannte Realität, genauer an die wirkliche Existenz der Zeit in keiner Weise gebunden, gegenstandstheoretisch. Daß von der Phoronomie Analoges noch in weit höherem Maße gilt, versteht sich; und hat, was mir kaum abzuweisen scheint, A. Höfler Recht, wenn er neben Raum und Zeit auch noch Spannung als das „dritte Grundphänomen der Mechanik“ in Anspruch nimmt,31-131-1A. Höfler, „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“, S. 84 (24 der Sonderausgabe), Anm. 23, auch S. 164 (104). Die „Dimensionslehre“, auf die a. a. O. S. 147 (87) hingewiesen wird, verdient wohl ebenfalls im gegenwärtigen Zusammenhange angeführt zu werden. so ist damit eine weitere Richtung gekennzeichnet, in der diese Wissenschaft unbeschadet ihres von Natur empirischen Charakters durch möglichst weitgehende apriorische Bearbeitung ihrer Objekte den Interessen der Gegenstandstheorie entgegenkommt.

Noch deutlicher wird dieses über sich Hinausgreifen der geometrischen Betrachtungsweise dort, wo es vermöge der Eigenart des einbezogenen Gebietes nur teilweise gelingt. In dieser Hinsicht sind die Bemühungen der modernen Psychologie, die den verschiedenen Sinnen zugehörigen „Empfindungsgegenstände“31-231-2Ein mir sehr brauchbar scheinender Terminus Witasek’s (vgl. dessen „Grundlagen der allgemeinen Ästhetik“, Leipzig 1904, S. 36ff.). zu ordnen und ihre Mannigfaltigkeiten wo möglich durch räumliche Abbildung zu erfassen, besonders lehrreich; und wenn auch selbst dort, wo diese Bemühungen bisher die greifbarsten Ergebnisse zutage [32] gefördert haben,32-132-1Vgl. meine „Bemerkungen über den psychologischen Farbenkörper usw.“ a. a. O. S. 5ff. beim Lichtsinne, die Bezeichnung „Farbengeometrie“ ein noch bei weitem nicht verdientes Lob in sich schließt, so tritt doch gerade darin der weit mehr gegenstandstheoretische als psychologische Charakter der einschlägigen Untersuchungen in besonders unverkennbarer Weise zutage. Hoffentlich ist es nicht allzu persönlich, wenn ich an dieser Stelle berichte, daß mir erst während des vermeintlich ausschließlich psychologischen Bemühens, in der Klärung dieser Dinge vorzudringen, manches vom Wesen der gegenstandstheoretischen Fragestellungen in ihrer ganzen Allgemeinheit aufgegangen ist.

Was ich eben als das Übergreifen mathematischer Betrachtungsweise über ihr engstes Gebiet bezeichnet habe, hat den Charakter des Instinktiven. Unbewußten im Vergleiche mit den ganz ausdrücklich auf Erweiterung jenes Gebietes und möglichste Verallgemeinerung der Fragestellungen gerichteten Bestrebungen, die wohl schon unter dem Namen der allgemeinen Funktionentheorie, unverkennbar aber in Bezeichnungen wie „Ausdehnungslehre“, „Mannigfaltigkeitslehre“, wohl auch unter dem so viel mißdeuteten Schlagworte „Metamathematik“ zur Geltung gekommen sind. Von dem für uns an dieser Stelle maßgebenden Gesichtspunkte aus besehen repräsentieren die einschlägigen hochbedeutsamen Untersuchungen den Übergang von der speziellen zur allgemeinen Gegenstandstheorie. Eine ähnliche Stellung mag in mancher Hinsicht den sonst so völlig anders intentionierten Bestrebungen und Ergebnissen zukommen, die man sich unter den Gesamtnamen „mathematische Logik“ zusammenzufassen gewöhnt hat. Dagegen wird das trotz des philosophiegeschichtlichen Wissens unserer Zeit vorerst kaum annähernd Einzuschätzende an wertvollen Aufstellungen und Anregungen, welche (nicht mathematische) Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik von Aristoteles bis auf die Gegenwart zur Durchforschung des uns hier beschäftigenden Interessenkreises beigesteuert hat, wohl in allererster Linie der allgemeinen Gegenstandstheorie zustatten kommen. Das Nämliche gilt aber auch von der Sprachwissenschaft, insbesondere Grammatik, deren Bedeutung zwar weder von alter noch von neuer Logik [33] Übersehen worden ist, indes schwerlich recht gewürdigt werden konnte, ehe man im Wesen von Wort- resp. Satzbedeutung Objekt resp. Objektiv erkannt hatte.33-133-1Vgl. „Über Annahmen“, besonders S. 19ff., 175ff. So völlig verschieden die Dinge im ganzen auch stehen, man fühlt sich doch versucht zu behaupten, die allgemeine Gegenstandstheorie habe von der Grammatik in ähnlicher Weise zu lernen, wie die spezielle Gegenstandstheorie von der Mathematik lernen kann und soll.

Wie dieser rasche Umblick trotz seiner Flüchtigkeit dartut, ist die Gegenstandstheorie keineswegs in allen Dingen erst auf zu leistende Arbeit angewiesen. Eher fast könnte die Frage entstehen, ob das hier versuchte Eintreten für eine „Gegenstandstheorie“ mehr zu bedeuten habe als einen neuen Namen für eine alte Sache. Und leicht könnte man dann finden, daß es für zu leistende Forschungsarbeit gleichgültig genug sein möchte, ob sie von einem Mathematiker, Physiker, Logiker oder — Gegenstandstheoretiker unternommen werde. Indes läge in dieser letzten Wendung ein Missverständnis, dem bereits im Anfange dieser Darlegungen ausdrücklich entgegengetreten worden ist. Es ist sicher einerlei, wer theoretische Probleme löst und unter welchem Namen er es tut. Sollte es auch gelingen, die Anerkennung der Gegenstandstheorie als besonderer Disziplin durchzusetzen, so wird man nach wie vor Mathematikern wie Physikern, Sprachforschern wie den Vertretern welcher sonstigen Wissenschaft immer für tatkräftige Förderung der gegenstandstheoretischen Interessen dankbar sein dürfen, und dies auch dann, wenn sie dabei den Rechtsboden ihrer eigenen Wissenschaft nicht verlassen zu haben meinen. Dagegen dürfte es für viele, wo nicht die meisten einschlägigen Arbeiten, wie sonst so häufig, von größtem Belange sein, von der Natur der zu lösenden Aufgabe eine möglichst klare Vorstellung zu haben: die Verschärfung alter, das Hinzutreten neuer fruchtbarer Fragestellungen ist eine natürliche Folge. Schon der Umstand, daß die eben zusammengestellten, zunächst so verschiedenartig scheinenden Probleme und Bestrebungen sich unter dem Gesichtspunkte der Gegenstandstheorie als zusammengehörig darstellen, gewährleistet den Wert dieses Gesichtspunktes.

§11. Philosophie und Gegenstandstheorie.

[34] Darf ich hoffen, durch das Bisherige die Eigenberechtigung der Gegenstandstheorie gegenüber den übrigen Wissenschaften ausreichend dargetan zu haben, so mag es nun an der Zeit sein, auch ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu diesen übrigen Wissenschaften einige Aufmerksamkeit zu schenken, mit anderen Worten den Ort der Gegenstandstheorie im Systeme der Wissenschaften einigermaßen zu bestimmen. Die Schwierigkeiten, mit denen man sich dabei abfinden muß, namentlich wenn man von einigermaßen befriedigenden Definitionen der betreffenden Wissenschaften auszugehen bemüht ist, sind keineswegs ausschließlich auf Rechnung der Gegenstandstheorie oder der hier vertretenen „Idee“ derselben zu setzen. Denn an den verschiedensten Wissenschaften kann man immer noch erkennen, wie wenig sie sich im Wachsen und Gedeihen durch den Umstand stören lassen, daß sich eine in jeder Hinsicht einwurfsfreie Definition für sie bisher nicht hat finden wollen. Ich ziehe daraus keineswegs die Konsequenz, daß die auf Gewinnung solcher Definitionen gerichteten Bemühungen nicht fortgesetzt werden sollten, wohl aber, daß man zwar das bisher erreichte Unvollkommene nicht unbenutzt lassen darf, daneben es aber ganz wohl auch einmal damit versuchen kann, wie weit sich auf Grund einiger konkreter Sachkenntnis auch schon ohne förmliche Definition Rat schaffen läßt.

Auf solche Grundlagen hin wird es insbesondere jedem, der irgendwie einer jener Wissenschaften näher steht, deren Gesamtheit unter dem Namen „Philosophie“ zusammengefaßt wird,34-134-1Genaueres hierüber in meinen Ausführungen „Über philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik“, Kap. I. Vgl. neuestens Höfler, „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“, a. a. O. S. 123 (63) ff. nicht eben schwer fallen, auch in der Gegenstandstheorie eine dieser Wissenschaften zu erkennen. Auch Gegenstandstheorie ist also Philosophie und nur nach ihrer Stellung zu den übrigen „philosophischen Disziplinen“ kann noch die Frage sein. Ihrer Beantwortung habe ich aber bereits den größten Teil der vorstehenden Darlegungen gewidmet. Es hat sich herausgestellt, daß und warum Gegenstandstheorie weder Psychologie noch Logik ist. Auch daß [35] sie der Erkenntnistheorie gegenüber selbständig sei, meinte ich dartun zu können; doch möchte ich, wie schon angedeutet, auf dieses Ergebnis weniger Gewicht legen. Daß man nicht Erkenntnistheorie treiben kann, ohne auch Gegenstandstheorie zu treiben oder sich wenigstens die wichtigsten Feststellungen der Gegenstandstheorie zu nutze zu machen, scheint mir auf alle Fälle außer Zweifel,35-135-1Vgl. auch Höfler a. a. O. S. 151 (91). und darum möchte es am Ende ein unerheblicher Dissens sein, falls jemand meinen sollte, daß jene Feststellungen selbst eigentlich sozusagen nur im Namen der Erkenntnistheorie vorgenommen oder vorzunehmen wären.

Viel wichtiger für die Position der Gegenstandstheorie scheinen mir hingegen „geordnete Beziehungen“ zu einer anderen Nachbarwissenschaft, von der im Vorhergehenden auch schon wiederholt die Rede war: ich meine die Metaphysik, unter deren Namen die Geschichte der Philosophie ja tatsächlich viele der bedeutsamsten gegenstandstheoretischen Aufstellungen verbucht hat. Auch wer im Sinne der eben als relativ zulässig bezeichneten, obwohl nicht gebilligten Ansicht die Gegenstandstheorie als einen Teil der Erkenntnistheorie betrachten wollte, würde dadurch dieser Grenzfrage nicht überhoben: die Gegenstandstheorie zählte dann eben zu den Gebieten, oder machte am Ende gar eben das Gebiet aus, in betreif deren (oder dessen) Erkenntnistheorie und Metaphysik sich bisher bekanntlich nicht haben einigen können.

Leider ist aber gerade bei der Metaphysik eine Verständigung ohne alle Berufung auf definitorische Bestimmungen nicht zu erzielen. In diesem Sinne darf ich hier wenigstens den mir während der Niederschrift der gegenwärtigen Untersuchungen zukommenden Vorschlag A. Höfler’s nicht ganz unerwähnt lassen, der unter Zugrundelegung einer geistvollen Konzeption J. Breuer’s35-235-2Mitgeteilt in Beilage I zu Höfler’s wiederholt angeführter Schrift „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“. dafür eintritt, Metaphysik als die Wissenschaft vom „Metaphänomenalen“ zu charakterisieren.35-335-3A. a. O. S. 154 (94) ff. Der Grund, um deswillen ich diesem Vorschlage beizupflichten außerstande bin, ist im wesentlichen der nämliche, um deswillen ich mich seit Jahren nicht mehr entschließen kann, die „Phänomene“ des Lichtes, des Schalles etc [36] für das zu halten, mit dem der Physiker, oder auch die „psychischen Phänomene“ für das, womit es der Psycholog zu tun hat. Phänomene als solche sind eine, immerhin eine sehr wichtige, Art pseudo-existierender Gegenstände. Was im Falle einer Pseudoexistenz wirklich existiert, sind jederzeit nur inhaltlich bestimmte Vorstellungen: Vorstellungen aber sind, um hier der Einfachheit wegen nur von der Physik zu reden, me ja gerade Höfler selbst durch besonders handgreifliche Argumente dargetan hat36-136-1Vgl. „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“, besonders S. 131 (71) ff., niemals Untersuchungsobjekte der letzteren. Nun ist freilich das Phänomen nicht das Phänomenale, die Erscheinung nicht das Erscheinende, sofern unter letzterem etwas gemeint ist, das aus der Erscheinung erkannt werden, dessen Existenz also etwa aus der Tatsache der Erscheinung erschlossen werden kann. Daß ein solches Erscheinendes das ist, dem sich z. B. das physikalische Interesse zuwendet, das möchte auch ich ganz und gar nicht bestreiten. Dann kann ich aber auch nicht absehen, wie es möglich sein sollte, dergleichen „Phänomenales“ aus dem Bereiche metaphysischer Problemstellungen, etwa deren nach Anfang und Ende dieses Erscheinenden, auszuschließen.

Da ich mir eine so ausgiebige Abschweifung vom Hauptthema dieser Studie, wie die Wichtigkeit des von Breuer und Höfler angeregten Gedankens zu einigermaßen angemessener Würdigung erforderte, nicht gestatten kann, so mögen für jetzt diese wenigen Andeutungen genügen, zu motivieren, warum es mir nach wie vor36-236-2„Über philosophische Wissenschaft etc.“ S. 7. immer noch am angemessensten scheint, bei der Charakteristik der Metaphysik auf das Moment der größtmöglichen Allgemeinheit im Sinne eines möglichst umfassenden Geltungsbereiches für ihre Aufstellungen das Hauptgewicht zu legen. Die Metaphysik ist weder Physik, noch physische, noch psychische Biologie, vielmehr fasst sie Unorganisches wie Organisches und Psychisches in ihr Forschungsgebiet zusammen, um zu ermitteln, was für die Gesamtheit des in diese so verschiedenen Gebiete Fallenden Geltung hat. Natürlich wird gerade dieser Bestimmung gegenüber um des Nachdruckes willen, den sie auf die Allgemeinheit legen muß, besonders stark das Bedürfnis fühlbar, das Verhältnis zwischen [37] Metaphysik und Gegenstandstheorie ins reine zu bringen, nachdem auch bei letzterer die besondere Weite des ihr zugehörigen Gebietes unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Aber vielleicht führt uns gerade die Mitberücksichtigung der Gegenstandstheorie auf einen Gesichtspunkt, der uns gestattet, die obige Charakteristik der Metaphysik noch zu vervollständigen und dadurch manches Bedenken, dem sie bisher ausgesetzt sein mochte, zum Schweigen zu bringen.

Übrigens kann ich dabei auf bereits Besprochenes zurückgreifen und mich insofern kurz fassen. Existiert, wie wir ja wohl glauben dürfen, nichts in der Welt, das weder physisch noch psychisch wäre, dann ist die Metaphysik, sofern sie sowohl dem Psychischen als dem Physischen zugewandt ist, sicher die Wissenschaft von der Gesamtheit des Wirklichen. Insofern ist dann z. B. natürlich auch die Grundthese des Monismus, welche die Wesensgleichheit, und nicht minder die des Dualismus, welche die Wesensverschiedenheit des Physischen und Psychischen behauptet, metaphysisch. Aber wer zwei Dinge als gleich oder verschieden erkennt, erkennt freilich etwas in betreff dieser Dinge: seine Erkenntnis betrifft jedoch auch Gleichheit resp. Verschiedenheit, und Gleichheit ist selbst so wenig wieder ein Ding wie Verschiedenheit; beide stehen außerhalb der Disjunktion zwischen Physisch und Psychisch, weil außerhalb des Realen. Es gibt eben auch Wissen von Nichtwirklichem: und mögen die Aufgaben der Metaphysik in ihrer Weise noch so allgemein gefaßt werden, es gibt noch allgemeinere Fragestellungen als die der Metaphysik, solche nämlich, für die jene für die Metaphysik wesentliche Richtung auf das Wirkliche keine Schranke mehr ausmacht. Dieser Art aber sind eben die Fragestellungen der Gegenstandstheorie.

Aber, so wird man wohl vor allem fragen, ist es nicht gewaltsam, oder doch zum mindesten willkürlich, alle idealen Gegenstände37-137-1„Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“ S. 198f. aus dem Untersuchungsbereiche der Metaphysik grundsätzlich auszuschließen? Ich antworte darauf zunächst, daß sie ja keineswegs in jedem Sinne ausgeschlossen sein sollen: es wäre sicher schlimm um unsere metaphysischen Interessen bestellt, wenn, das Beispiel von Monismus und Dualismus hat es eben erst dargetan, [38] in der Metaphysik nicht von Gleichheit oder Verschiedenheit, ebenso wenn darin nicht von Ursache. Zweck, Einheit, Kontinuität und vielen anderen Gegenständen, die ganz oder teilweise idealer Natur sind, die Rede sein dürfte. Aber von vielem derartigen ist ja auch schon etwa in der Physik die Rede, das gleichwohl niemand den Gegenständen physikalischer Forschung zuzählen möchte. Es ist also jedenfalls mit ganz bestimmten Vorbehalten gemeint, wenn von einer Beschränkung des Gebietes der Metaphysik auf die Wirklichkeit die Rede ist. Solche Vorbehalte aber vorausgesetzt, glaube ich nun vor allem wirklich, daß diese Beschränkung durchaus dem Geiste gemäß ist, in dem in alter und neuer Zeit stets Metaphysik getrieben wurde, entsprechend zugleich dem wiederholt erwähnten natürlichen Interessenvorrange des Wirklichen. Daß „Ontologie“, „Kategorienlehre“ und was sonst mit mehr oder weniger Einstimmigkeit dann immer noch der Metaphysik zugerechnet wurde, ab und zu auch den Interessen stattgegeben hat, die über die Grenzen des Wirklichen hinausreichen, zeugt nur für das gute Recht und die Unabweisbarkeit auch dieser Interessen, gibt aber, so viel ich sehe, keinem Zweifel daran Raum, daß die Grundintention aller Metaphysik doch jederzeit auf das Erfassen der „Welt“ im eigentlichen, natürlichen Sinne, d. i. der Welt des Wirklichen gerichtet war, selbst dann, wenn dieses Erfassen zu ergeben schien, daß das zu Erfassende auf den Namen eines Wirklichen gar keinen Anspruch habe. Sollte aber auch die hier ausgesprochene Ansicht vom eigentlichen Charakter der bisherigen Metaphysik nicht jeden überzeugen, ja wohl gar sich als historisch irrig erweisen lassen, der Irrtum beträfe immer nur die Begriffsbestimmung gleichsam „de lege lata“ und die „de lege ferenda“38-138-1Breuer bei Höfler a. a. O. S. 189 (129). stünde noch der Erwägung offen. Unter dieser Voraussetzung wäre das oben zur Charakteristik der Metaphysik Beigebrachte ein Definitionsvorschlag: den Namen „Metaphysik“ auf die Allgemeinwissenschaft vom Wirklichen einzuschränken, wäre eben gleich wünschenswert im Interesse klarer Aufgabenstellung für diese Wissenschaft, wie im Interesse deutlicher Abgrenzung derselben gegenüber der Gegenstandstheorie.

Nur ist hier nun in bezug auf letztere noch ein Punkt ins [39] reine zu bringen. Ist Metaphysik die Allgemeinwissenschaft vom Wirklichen, wollen wir ihr die Gegenstandstheorie als Allgemeinwissenschaft vom Nichtwirklichen gegenüberstellen? Das wäre offenbar zu eng: warum sollten die wirklichen Gegenstände aus der Lehre vom Gegenstände als solchem ausgeschlossen sein? Oder wäre es entsprechender, die Gegenstandstheorie als Lehre vom Bestehenden zu kennzeichnen, das Wort „bestehen“ einigermaßen im Gegensatz gegen „existieren“ genommen,39-139-1„Über Gegenstände höherer Ordnung etc.“, S. 186. wobei vorausgesetzt werden dürfte, daß zwar alles Existierende auch besteht, nicht aber alles Bestehende (z. B. Verschiedenheit) existiert? Auch hier wäre nicht das Gesamtgebiet einbegriffen, das, wie wir sahen, der Gegenstandstheorie untersteht: das Nichtbestehende, das Absurde wäre ausgeschlossen, dem das natürliche Interesse ja sicher nur in weit geringerem Maße zugewandt ist und das auch intellektuellem Erfassen weniger Angriffspunkte bietet,39-239-2Vgl. E. Mally in Nr. III dieser Untersuchungen, Kap. I. § 5f. aber am Ende doch auch zu dem „Gegebenen“ gehört, so daß die Gegenstandstheorie es in keiner Weise ignorieren kann.

Solchen Mängeln ließe sich einfach durch die Festsetzung begegnen, die Gegenstandstheorie beschäftige sich mit dem Gegebenen ganz ohne Rücksicht auf dessen Sein, indem sie nur auf die Erkenntnis seines Soseins bedacht sei. Und immerhin ist, was ein Verbleiben bei dieser Bestimmung verbieten dürfte, bereits sozusagen gegenstandstheoretisch intimerer Natur. Wollte sich nämlich die Gegenstandstheorie Gleichgültigkeit gegen das Sein zum Grundsatze machen, dann müßte sie zugleich darauf verzichten. Wissenschaft zu sein, und auch das Erkennen des Soseins wäre damit ausgeschlossen. Denn für das Erkennen ist, wie wir wissen, zwar durchaus nicht erforderlich daß sein Gegenstand sei: aber ein seiendes Objektiv muß jedes Erkennen haben, und befaßte sich die Gegenstandstheorie mit einem Sosein, dem selbst ein Sein nicht mehr zukäme, so hätte sie, von hier zu übergehenden Ausnahmssituationen39-*39-*[„Ausnahmesituationen“ in Werle.] abgesehen, insofern keinen Anspruch mehr darauf, für eine Theorie zu gelten. Man könnte nun freilich immer noch den Grundsatz so formulieren: die Gegenstandstheorie vernachlässigt das Sein nur bei ihren Objekten, nicht aber bei [40] (gewissen) Objektiven. Weshalb aber dann die Ungleichmäßigkeit? Und dann, oder vielleicht vor Allem: ob dieser oder jener Gegenstand von Natur absurd ist, ob er besteht oder auch wohl gar existieren kann, das sind Fragen, die die Gegenstandstheorie tatsächlich interessieren, und am Ende doch Fragen nach dem Sein. Kurz also: auch die Beschränkung auf das Sosein läßt sich mit dem Wesen der Gegenstandstheorie nicht wohl in Einklang bringen.

Es dürfte nun aber doch ein ziemlich einfaches Mittel geben, hier Rat zu schatten: einen methodologischen Gesichtspunkt, einen also, wie man deren bei der Charakteristik von Wissenschaften eher mit zuviel als zuwenig Eifer namhaft zu machen versucht hat. Es gibt bekanntlich Erkenntnisse, die ihre Legitimation in der Beschaffenheit, im Sosein ihrer Objekte resp. Objektive haben, — andere dagegen, wo dies nicht der Fall ist.40-140-1„Über Annahmen“, S. 193f. Jene heißen längst apriorische, diese empirische, und wenn es ab und zu auch noch heute begegnet, daß dieser Unterschied geleugnet wird, so hat das für diesen Unterschied selbst nicht mehr zu bedeuten, als es für die Verschiedenheit von Farben verschlägt, wenn der Farbenblinde ihrer nicht gewahr wird, nur daß die Farbenblindheit psychologisch um vieles interessanter ist. Nimmt man nun diesen Unterschied zu Hilfe, dann gelingt, wie mir scheint, eine befriedigende Differentiation unserer beiden Disziplinen ohne die geringste Schwierigkeit. Was nämlich aus der Natur eines Gegenstandes, also a priori, in betreff dieses Gegenstandes erkannt werden kann, das gehört in die Gegenstandstheorie. Es wird sich dabei zunächst um das Sosein des „Gegebenen“ handeln, aber auch um dessen Sein, soweit dieses aus dem Sosein erkennbar ist. Was dagegen über Gegenstände nur a posteriori auszumachen ist, gehört, ausreichende Allgemeinheit vorausgesetzt, der Metaphysik zu daß dabei der Kreis des Wirklichen, soweit die betreffenden Erkenntnisse affirmativer Natur sind, nicht überschritten wird, dafür sorgt der aposteriorische Charakter dieser Erkenntnisse. Es gibt dann eben einfach zwei allgemeinste Wissenschaften, eine apriorische, die alles Gegebene betrifft, und eine aposteriorische, die vom Gegebenen so viel in Untersuchung zieht, als für empirisches Erkennen eben in Betracht kommen kann, die gesamte Wirklichkeit [41] nämlich: diese letztere Wissenschaft ist die Metaphysik, jene erstere die Gegenstandstheorie.

Was an dieser Bestimmung: wohl in erster Linie auffallen wird, ist dies, daß darin die Metaphysik als empirische Wissenschaft auftritt, indes doch der Mangel an ausreichender Empirie gerade dasjenige ist, was von den Vertretern der Einzelwissenschaften alter wie neuer Metaphysik stets in erster Linie zum Vorwurfe gemacht worden ist. Ich möchte niemanden, der einen solchen Vorwurf verdient, gegen ihn in Schutz nehmen, und hotte es durch Obiges auch so wenig getan zu haben, daß ich eben bereits in der Definition der Metaphysik den berechtigten Ansprüchen der Empirie auf sie Rechnung zu tragen bemüht war. Was Wirklichkeitswissenschaft ist, gleichviel ob speziellere oder allgemeinere, dem steht in letzter Linie eine andere Erkenntnis- quelle als die Erfahrung nicht zu Gebote. In letzter Linie: d. h. nicht alles muß direkt erfahren, es kann aus Erfahrenem auf Unerfahrenes, allenfalls auch auf Unerfahrbares geschlossen werden. Aber was die Empirie zur unentbehrlichen Grundlage hat, bleibt selbst jederzeit empirisch und vom erkenntnistheoretischen Gesamtcharakter des Apriorischen toto coelo verschieden. In diesem Sinne gibt es eben kein anderes Wissen von Existierendem als Erfahrungswissen: stehen der Metaphysik die Erfahrungen nicht zu Gebote, die zu Aufstellungen von der für sie charakteristischen Allgemeinheit erforderlich wären, dann — gibt es eben keine Metaphysik, mindestens keine wissenschaftliche, und von der allein ist hier immer die Rede. Und darauf ist ja bereits ausdrücklich hingewiesen worden, daß es für die gegenwärtigen Aufstellungen ganz außer Betracht bleiben kann, in welchem Maße sich das Streben nach wissenschaftlicher Metaphysik bisher hat in die Tat umsetzen lassen. So ist es nur ein scheinbares, durch kurze Überlegung zu beseitigendes Paradoxon, wenn ich behaupten muß so viel oder wenig von metaphysischem Wissen uns zugänglich sein mag, dieses Wissen kann zuletzt kein anderes als empirisches Wissen sein.

Hält man dem aber die Tatsache entgegen, daß man mit dem Worte „Metaphysik“ so oft auch wissenschaftliche Bestrebungen, vielleicht auch Leistungen benannt hat, bei denen man sich unverkennbar, vielleicht sogar grundsätzlich außerempirischer, also [42] apriorischer Erkenntnismittel bediente, so vergisst man, daß wir jetzt auf dem Standpunkte der, sit venia verbo, „definitio ferenda“ stehen. Daß man die beiden Erkenntnisgebiete, um deren reinliche Scheidung, mir eben jetzt zu tun ist, bei weitem nicht immer reinlich geschieden hat, das ist mir natürlich ganz wohl bekannt. Daß aber die Scheidung, falls sie mir gelungen sein sollte, keine ganz wertlose Sache sein möchte, dafür mag an dieser Stelle nur das ontologische Argument zeugen, dem oder wenigstens dessen Analogien vielleicht auch noch heute nicht jedermann entwachsen ist: es ist eben ein Versuch, eine metaphysische Frage bloß apriorisch zu lösen, sie insofern auf dem Fuße einer bloß gegenstandstheoretischen Frage zu behandeln; damit ist das Argument und seinesgleichen gerichtet.

Daß durch diese Scheidung alle Grenzschwierigkeiten zwischen Metaphysik und Gegenstandstheorie aus der Welt geschafft sein sollten, ist unwahrscheinlich. Aber es wäre auch unbillig, gerade in diesem Falle zu verlangen, was ungefähr noch in keinem Falle zwischen Grenzwissenschaften erzielt worden sein wird. Wichtiger ist ein Einwurf speziell vom Standpunkte der Gegenstandstheorie aus. Diese wurde zuletzt kurzweg als allgemeine Wissenschaft behandelt, indes wir doch oben ganz ausdrücklich allgemeine und spezielle Gegenstandstheorie auseinander zu halten Anlaß hatten. Hier liegt aber eine Unvollkommenheit vor, die sich wenigstens fürs erste, d. h. beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens in gegenstandstheoretischen Dingen aus praktischen Gründen nicht wird beseitigen lassen. Daß der Mathematik, soweit sie spezielle Gegenstandstheorie ist, noch verschiedene, ihrer Anzahl nach zur Zeit kaum zu bestimmende andere spezielle Gegenstandswissenschaften an die Seite treten könnten, ist klar. Aber diese Gebiete sind uns wenigstens zurzeit noch so unvollkommen bekannt, daß ein Bedürfnis, sich bei deren Bearbeitung zu spezialisieren, vorerst nicht vorliegt. Die speziellen Gegenstandstheorien zerfallen also praktisch derzeit in Mathematik und Nichtmathematik: und was über das zweite Glied dieser noch recht primitiven Teilung zu sagen ist, ist derzeit so wenig, daß es vorerst mit leichter Mühe im Rahmen der allgemeinen Gegenstandstheorie Platz findet. Insofern gibt es gegenwärtig tatsächlich noch keine spezielle Gegenstandstheorie, die nicht Mathematik wäre: es läßt sich aber natürlich [43] in keiner Weise vorhersagen, wie lange es so bleiben wird. Vorgegriffen ist einer diesbezüglichen Entwicklung durch die oben vorgeschlagene Definition nicht. So gut der empirischen Allgemeinwissenschaft empirische Sonderwissenschaften gegenüberstehen, so gut können der apriorischen Allgemeinwissenschaft apriorische Sonderwissenschaften zur Seite treten. Realisiert ist diese Möglichkeit zurzeit nur in der Mathematik, die durch ihre Subsumtion unter gegenstandstheoretische Gesichtspunkte zwar nicht neben wirkliche, wohl aber mindestens neben mögliche Disziplinen gestellt ist, so daß sie sich nunmehr auf alle Fälle keineswegs in jener seltsamen Isolierung befindet, die uns bereits oben als Zeichen eines Mangels in der bisher üblichen wissenschaftstheoretischen Auffassung dieser Wissenschaft aufgefallen ist.43-143-1Vgl. oben S. 7, 27.

Schließlich aber muß ich nun noch einmal auf die oben ohne Appell an eine Definition vollzogene Einbeziehung der Gegenstandstheorie unter die philosophischen Wissenschaften zurückkommen. Ich habe seinerzeit diejenigen Wissenschaften als philosophische zusammenzufassen versucht, die sich entweder nur mit Psychischem oder doch auch mit Psychischem befassen. Es ist nun neuestens die Vermutung ausgesprochen worden,43-243-2Von Höfler in seiner Studie „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“, a. a. O. S. 124 (64), Anm. meine relations- und komplexionstheoretischen Arbeiten dürften mich dazu geführt haben, der Philosophie nunmehr einen Doppelgegenstand, „Psychisches und Relationen (nebst Komplexionen)“ als wesentlich zuzusprechen. Daß eine solche Modifikation die ursprüngliche Bestimmung ganz und gar um ihre Einheitlichkeit brächte, ist ohne weiteres ersichtlich; und nur wenn man einer Charakteristik der Philosophie für jeden Fall den Gedanken zugrunde legen zu müssen meinte, daß das Objekt ihrer Forschung einfach durch dasjenige ausgemacht werde, was ihr die Naturwissenschaft sozusagen übrig gelassen hat,43-343-3Vgl. J. Breuer bei Höfler a. a. O. S. 190 (130). dürfte man keinen Anstoß daran nehmen, falls dieser Rest sich auch als ein noch so buntes Vielerlei darstellen sollte. Aber eine sonderlich würdige Position wäre der Philosophie damit nicht angewiesen: und möchte es auch gar nicht ohne jede praktische Berechtigung sein, einen Wissenschaftsbetrieb einzuführen, der im [44] wesentlichen darauf gerichtet wäre, Rückstände aufzulesen, so könnte das schwerlich etwas an der Tatsache ändern, daß theoretisch diese Rückstände zusammen noch bei weitem nicht den Stoff einer Wissenschaft für sich ausmachten. Andererseits ist indes freilich auch richtig, daß Komplexionen und Relationen, soweit sie ideal sind, — noch lieber würde ich heute sagen: Idealkomplexe und Idealrelate,44-144-1Über die Gründe für diese Veränderung in der bisher von mir verwendeten Terminologie vgl. diese Untersuchungen Nr. III, Kap. I, §9, 11. — weil überhaupt nicht real, so auch weder physisch noch psychisch sind. Um sie aber in den Bereich philosophisch zu nennender Untersuchungen einbeziehen, mit anderen Worten, um die Gegenstandstheorie als philosophische Disziplin betrachten zu dürfen, dazu bedarf es bei der einen Universalwissenschaft so wenig eines neuen Beisatzes zur Charakteristik des „Philosophischen“ als bei der anderen. Durfte ich die Metaphysik den philosophischen Wissenschaften beizählen, weil sie ihre Aufgaben weit genug faßt, um neben dem Physischen auch das Psychische in diese einzubeziehen, dann kann auch nichts im Wege stehen, aus demselben Grunde die Gegenstandstheorie als philosophische Wissenschaft zu behandeln. Zum Gegebenen, mit dessen Gesamtheit sie es zu tun hat, gehört eben auch das Psychische, unbeschadet der Tatsache, daß auch physische und ideale Gegenstände darin zur Bearbeitung kommen müssen, — davon gar nicht zu reden, daß beim Idealen, das von Natur stets Superius ist, als unerläßliche Inferiora gar wohl noch einmal psychische Gegenstände in Frage kommen können.

Natürlich stehe ich aber nicht an, dem eben neuerlich bewährten Parallelismus zwischen Gegenstandstheorie und Metaphysik auch noch in einer anderen, im Grunde mehr praktisch als theoretisch wichtigen Sache stattzugeben. Aus dem Umstände, daß die Metaphysik es zwar auch mit Psychischem, aber nicht nur mit Psychischem, sondern auch mit Physischem zu tun hat, habe ich seinerzeit die Konsequenz gezogen, daß zur Bearbeitung metaphysischer Probleme nicht nur der Vertreter der Wissenschaften des Psychischen, sondern nicht minder der Vertreter einer Wissenschaft des Physischen berechtigt und berufen sei. Mir scheint nun in der Tat, daß man nicht umhin können wird, ganz das Nämliche auch in betreff der Gegenstandstheorie einzuräumen. [45] Zwar dürfte hinsichtlich der Forschungstechnik sowohl in der Metaphysik wie in der Gegenstandstheorie derjenige einen gewissen Vorsprang haben, der auf die wissenschaftliche Bearbeitung psychischer Erlebnisse eingeübt ist: speziell in betreif der Gegenstandstheorie spricht die Tatsache, daß man bei ihr mit einer, wie wir wissen, gelegentlich verhängnisvollen Leichtigkeit ins Psychologische hineingerät, eine nicht mißzuverstehende Sprache. Aber mehr als Rücksichten der Technik sind dies nicht: auch ist in vorhinein gar nicht abzusehen, wie leicht derlei unter besonderen Umständen etwa durch eine eigene von einer anderen Wissenschaft mitgebrachte Technik mehr als wett gemacht werden kann. Soweit namentlich Mathematik als spezielle Gegenstandstheorie betrachtet werden darf, wäre es undankbar, zu vergessen, zu welch glänzenden Ergebnissen hier gegenstandstheoretische Forschung oft ohne alle Fühlung mit sonstigen philosophischen Interessen geführt hat.

§12. Schlußwort.

Haben die bisherigen Darlegungen Wesen und Eigenberechtigung einer besonderen Wissenschaft „Gegenstandstheorie“, so wie deren Stellung in der Gesamtheit der Wissenschaften wenigstens in groben Umrissen dargetan, so könnte nunmehr an der Zeit sein, auch noch etwas Genaueres über Aufgaben und Methode der neuen Wissenschaft auszuführen. Aber einerseits hat sich das Wichtigste in dieser Hinsicht oben bereits ganz von selbst ergeben: weiß man einmal, womit eine Wissenschaft es zu tun hat, so sind damit ja bereits ihre Aufgaben im allgemeinen vorbestimmt, zumal wenn auch der apriorische Charakter der fraglichen Wissenschaft vorgegeben ist; und durch letzteren Beisatz ist auch zugleich das Wichtigste in betreff der Methode ausgemacht. Andererseits aber und vor allem ist bekanntlich Plane machen „mehrmalen eine üppige prahlerische Geistesbeschäftigung“, und Anderen Wege vorzeichnen, die man selbst einzuschlagen unterläßt, womöglich eine noch üppigere. Deshalb würde ich mich der vorstehenden Abhandlung über eine Wissenschaft, die erst werden soll, vielleicht besser enthalten haben, dürfte ich nicht hoffen, daß mein bisheriges Verhältnis zu ihr doch wohl den Verdacht [46] ausschließen wird, als begnügte ich mich mit Projekten, statt selbst Hand anzulegen. Es gehört um so vieles mehr dazu, Prometheus zu sein als Epimetheus, daß es sicher nicht wie Selbstlob aussehen wird, wenn ich hier die Tatsache verzeichne, daß ich Jahre, ja eigentlich jahrzehntelang unter dem Einflüsse gegenstandstheoretischer Interessen wissenschaftlich gearbeitet habe, ohne daß mir von der eigentlichen Natur dieser Interessen auch nur eine Ahnung aufgegangen wäre. Daß aber diese Natur sich so ganz von selbst erst praktisch und dann einmal auch, ich könnte selbst kaum sagen, wann,46-146-1Jedenfalls lange vor 1903, wo ich zum ersten Male Gelegenheit nahm, auf die Gegenstandstheorie auch bereits unter diesem Namen ausdrücklich hinzuweisen, vgl. „Bemerkungen über den Farbenkörper etc.“, a. a. O. S. 3f. theoretisch bei mir durchgesetzt hat, darin sehe ich ein zwar nicht eben formal stringentes, gleichwohl seinem Gewichte nach nicht gering anzuschlagendes neues Argument für die Legalität der oben im Namen der Gegenstandstheorie erhobenen Ansprüche. Diese Ansprüche selbst aber bedeuten so für mich weit mehr eine Rück- als eine Vorschau; und hatte ich überdies Gelegenheit, mich an mir wie an anderen davon zu überzeugen, wie befruchtend die bewußt gegenstandstheoretische Betrachtungsweise alten wie unabsehbar zahlreichen neuen Problemstellungen und -lösungen gegenüber sich geltend macht, dann durfte ich einen Versuch nicht für verfrüht halten, dieser Betrachtungsweise durch Darlegung ihrer Eigenart zu ausdrücklicher Anerkennung zu verhelfen.

Gleichwohl hat indes das Auftreten der voranstehenden Ausführungen im Rahmen der gegenwärtigen Sammlung von Untersuchungen noch einen spezielleren Anlaß. Es konnte nicht fehlen, daß in dem Kreise, innerhalb dessen die Einsicht in die Bedeutung der Gegenstandstheorie zum ersten Male recht lebendig geworden war, auch die gegenstandstheoretische Forschung besonders liebevolle Pflege fand. So ist es möglich geworden, bereits zwei der Gegenstandstheorie gewidmete Studien an die Spitze der gegenwärtigen Sammlung zu stellen, die vielleicht außerdem noch in ihren übrigen Stücken da und dort Zeugnis dafür ablegen wird, daß gegenstandstheoretisches Wissen und Können auch psycho- logischer Forschung gar wohl zu statten kommen mag. Es schien [47] im Hinblick hierauf geboten, schon im Titel der ganzen Sammlung ausdrücklich der Gegenstandstheorie zu gedenken, und den beiden genannten Abhandlungen eine Art prinzipieller Verständigung über das mit diesem Worte gemeinte vorausgehen zu lassen. So stellt sich, was im Obigen über eine neue Wissenschaft gesagt worden ist, auch innerhalb der gegenwärtigen Veröffentlichung selbst nicht als ein bequemer Zukunftstraum oder gar als eine Utopie dar, sondern als ein möglichst klar ins Auge gefaßtes Ziel, dem näher zu kommen wir bereits unser bestes Können einzusetzen begonnen haben.

Haben sonach die gegenwärtigen Ausführungen zugleich als eine Art speziellerer Vorrede zum gegenstandstheoretischen Teile des vorliegenden Buches zu fungieren, so ist hier nun wohl auch der geeignete Ort für ein paar Bemerkungen in betreff der nachfolgenden beiden Arbeiten. Es ist nicht nur der Herausgeber dieser Arbeiten, der in diesen Bemerkungen zum Worte kommt, sondern vielleicht noch mehr der akademische Lehrer, der in Zeiten, die meist noch gar nicht so sehr weit zurückliegen, die Freude hatte, die Autoren der nachfolgenden Untersuchungen in die philosophischen Wissenschaften einzuführen, und der sich dadurch für berechtigt, oder unter den vorliegenden besonderen Umständen vielmehr für verpflichtet hält, hinsichtlich der Intentionen der in Rede stehenden Arbeiten von vornherein einige naheliegende Missverständnisse auszuschließen.

Ich werde nach Früherem kaum dem Verdachte ausgesetzt sein, die Vorarbeiten, die der Gegenstandstheorie von so verschiedenen Seiten her zu statten kommen, nicht ausreichend dankbar zu würdigen, wenn ich gleichwohl sage: die Gegenstandstheorie ist eine junge, eine sehr junge Wissenschaft. Wer sich in ihr Gebiet begibt, findet zwar der zu bearbeitenden Probleme wie der sich darbietenden Lösungsmöglichkeiten eine geradezu unermeßliche Fülle: aber er kann auch bei reiflichster Überlegung nicht hoffen, jedesmal das Richtige zu treffen, er muß vielmehr darauf rechnen, daß von dem, was er festgestellt zu haben meint, gar manches vorgeschrittenem Wissen und entwickelterer Forschungstechnik künftiger Zeiten wieder zum Opfer fallen wird. Auch daß der Individualität des Forschers zu Anfang ein bestimmenderer Anteil an den Ergebnissen zufallen muß als in Zeiten fester Traditionen und geebneter [48] Forschungswege, ist selbstverständlich. Darum möchten die folgen- den Darlegungen keineswegs so verstanden sein, als meinten deren Verfasser kurzweg abschließende Resultate vorlegen zu können. Es sind nur vorläufige Ergebnisse, gewiß nicht wie der Herausgeber bezeugen kann, eilfertig konzipiert, wohl aber in der Voraussicht, daß daran noch gar vieles zu bessern übrig sein mag, — in der Meinung darum, daß das hier Gebotene weit weniger dazu bestimmt sei, vom Leser passiv übernommen, als kritisiert und weiter gebildet zu werden.

Unter dieser Voraussetzung wird dann auch kein begründeter Anstoß daran zu nehmen sein, daß die Aufstellungen der beiden Arbeiten den Begriffen, wie den Terminis nach untereinander und mit den etwa von mir selbst versuchten Konzeptionen nicht immer im Einklänge stehen, obwohl sie, was selbst wieder ein Zeichen des noch so primitiven Zustandes der Gegenstandstheorie ist, mehr als einmal sich genötigt sehen, auf Prinzipienfragen und darum wohl auch gelegentlich auf die nämlichen Prinzipienfragen ein- zugehen. Man könnte leicht geneigt sein, uns einen Vorwurf daraus zu machen, daß wir nicht in mündlichem Verkehr die Divergenzen geschlichtet haben, um erst nachher mit einem festgefügten System in sich zusammenstimmender Begriffe und Termini vor die Öffentlichkeit zu treten. Die Forderung, Kontroversen lieber privatim als literarisch zum Austrag zu bringen, ist gewiß eine berechtigte, und ich darf berichten, daß in den Grazer philosophischen Instituten an Diskussionen nicht gespart wird. Aber natürlich gilt dabei das Prinzip weitestgehender Überzeugungsfreiheit; und hätten wir unser Absehen darauf gerichtet gehabt, die individuelle Auffassung auch über gewisse Grenzen hinaus nicht zum Worte kommen zu lassen, so hätten wir damit suggestiven Einflüssen den Weg gebahnt, die dort am schädlichsten werden können, wo die Forschung sich in ihren Anfängen fühlt. Und hätten wir im folgenden Abgerundeteres, Einstimmigeres geboten, wir hätten es nur tun können um den Preis des Verlustes von Anregungen, die sich möglicherweise als die für die Weiterentwicklung der Gegenstandstheorie fruchtbarsten herausstellen könnten.

Mindestens teilweise auf analoge Rücksichten geht ein anderer Mangel der beiden folgenden Beiträge zurück, der den Autoren derselben ebenfalls wohl bekannt ist. Auch die Literatur eines [49] Gegenstandes kann denjenigen, der an dessen Erforschung herantritt, einerseits zwar durch Anregung fördern, andererseits aber auch in ihm durch Suggestion entwicklungsfähige Keime ersticken. Darin liegt hoffentlich wenigstens ein Teil der Rechtfertigung dafür, daß ich als ein erstes Forschungsprinzip längst den Grundsatz befolge und lehre: erst beobachten und nachdenken, dann lesen. Aber dieser Grundsatz schließt, wie ich nicht verkennen kann, einigermaßen die Gefahr in sich, daß die Literaturbenutzung einmal auch zu kurz kommen könnte, namentlich, wenn der Abschluß einer Arbeit an eine bestimmte Zeit gebunden oder das Heranziehen der Literatur durch besondere Umstände erschwert ist. Beides ist für die folgenden gegenstandstheoretischen Untersuchungen eingetroffen. Da der äußere Anlaß der gegenwärtigen Veröffentlichung das Erscheinen des Buches vor Ende 1904 verlangte, mußte ich die Autoren zum Abschlüsse ihrer Beiträge drängen zu einer Zeit, da sie sich über die innere Unabgeschlossenheit dieser Arbeiten durchaus keinen Täuschungen hingaben. Andererseits ist die gegenstandstheoretische Literatur, wie bereits den oben gelegentlich49-149-1Vgl. §10. beigebrachten Hinweisen zu entnehmen war, zurzeit alles eher als leicht zugänglich, weil sie, nicht nur nach allen Windrichtungen zerstreut, sondern überdies zum Teile erst bei sehr tief eindringendem Studium von Nachbarwissenschaften zu erschließen, geschweige auszuschöpfen ist. So wird man eine einigermaßen gleichmäßige Benutzung insbesondere der einschlägigen mathematischen Literatur trotz ihrer voraussichtlich tiefgehenden Bedeutung für die Grundlegung der Gegenstandstheorie in den beiden folgenden Abhandlungen noch vergebens suchen. Niemand von uns ist der Meinung, daß es dabei sein Bewenden haben dürfte: ich für mein Teil aber hoffe, daß man das Prinzip von Nachdenken und Lesen trotz der besonderen Umstände immer noch bewährt finden wird.

Täusche ich mich hierin nicht, dann wird der Leser wohl auch an der Menge neuer Begriffe und Termini keinen Anstoß nehmen, deren manche ihm überflüssig und lästig scheinen könnten, und sich, soweit sie es wirklich sind, ja auch sicher nicht auf die Dauer behaupten werden, — auch daran nicht, daß wir [50] uns entschlossen haben, diesen oder jenen Begriff anders zu benennen, als ich es etwa in früheren Arbeiten vorgeschlagen habe. Ein guter Terminus ist so viel als eine halbe Entdeckung: und besser, einen schlechteren Terminus, wenn man einen besseren gefunden hat, durch diesen ersetzen, als nur aus Konservativismus die üblen Folgen des alten weiterschleppen.

Ich fasse zusammen: Im Vorangehenden ist der Versuch gemacht worden, die Eigenberechtigung der Gegenstandstheorie als einer Wissenschaft für sich zu erweisen. Die beiden folgenden Abhandlungen, — nebenbei und implizite wohl auch noch andere der in diesem Buche gesammelten Untersuchungen, — wollen Beiträge zu dieser Wissenschaft bieten. In dieser Hinsicht Fertiges und Unumstößliches zu verlangen, möchte, wie die Dinge heute noch liegen, schwerlich billig sein: genug, wenn es gelungen sein sollte, der Erwägung und Kritik des Weiterstrebenden Konzeptionen vorzulegen, durch die der eingeschlagene Weg als vertrauenswürdig dargetan und, wer sich ihn einzuschlagen entschließt, gefördert wird. Möge, was wir beizubringen vermochten, sich als geeignet erweisen, der neuen Wissenschaft der Gegenstandstheorie Anerkennung und Freunde zu erwerben.